Kurzbericht  über  den  Vortrag

von  Andreas  J. 
Obrecht

"Zeitkonzepte  jenseits  des
Newton'
schen  Raumes 

-  Lebenszeit und Weltzeit  - 
Zeit und Handlungsrationalität
"

                    
Vorbemerkung:

       
Der Referent hat seine sehr interessanten Ausführungen mit dem berühmten Zitat des Kirchenvaters Augustinus, was die Zeit sei, eingeleitet: "Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; wenn ich es hingegen jemandem auf seine Frage hin erklären will, so weiß ich es nicht. Was also ist die Zeit?" (Aurelius Augustinus, "Confessiones" ["Bekenntnisse"], XI. Buch).

Die wichtigsten Aspekte waren 

Dankenswerterweise hat mir der Referent den Text eines seiner Aufsätze für diese Website zur Verfügung gestellt, der im wesentlichen dasselbe Thema behandelt.  Es ist zwar nicht wörtlich "unser" Vortrag, aber die Schwerpunkte sind dieselben und ich bin dadurch der Mühe enthoben, eine eigene Zusammenstellung gestalten zu müssen.

Zusatz im Frühjahr 2003:
mittlerweile ist dieser Aufsatz unter demselben Titel als Kapitel eines Buches erschienen:
Faschingeder, G., F. Kolland und F. Wimmer (Hrsg.):  Kultur als umkämpftes Terrain. Paradigmenwechsel in der Entwicklungspolitik? Wien, 2003 (Verlag Promedia).

Ferner weist unser Referent nunmehr darauf hin, daß der Artikel einige grundsätzliche Überlegungen enthält, die in einer eigenen Buch-Publikationen - samt vielen anderen neuen Aspekten - weiter ausgeführt werden sollen (vorgesehener Erscheinungsort und -termin:  Ffm, Herbst 2003).

 


 

ZEITREICHTUM UND ZEITARMUT IM "GLOBAL VILLAGE"

Von der Ordnung der Sterblichkeit zum Mythos der Machbarkeit
         

Verschwendung und Begrenzung

Jede Sekunde werden etwa drei Menschen geboren; das macht etwa 260 000 Kinder pro Tag; jede Minute wächst die Weltbevölkerung etwa um 150 Menschen, das ergibt eine jährliche Zunahme von etwa 80 Millionen Menschen. Von den über sechs Milliarden auf unserem Planeten lebenden Menschen befinden sich etwa 80% in sogenannten Entwicklungsländern (Leisinger 2000). Die Natur ist verschwenderisch mit Leben-Geben und Leben-Nehmen. Der Mensch ist es auch: 800 Millionen Menschen sind akut unterernährt, vier Fünftel der Weltbevölkerung müssen sich mit einem Fünftel, das ärmste Fünftel mit 1,4% des Weltsozialproduktes begnügen. Dem Bericht der World Health Organisation (WHO-Report 2001) ist zu entnehmen, dass täglich 25 000 Kinder an leicht vermeidbaren Krankheiten sterben. Massenhafter Tod macht massenhaftem Leben Platz. Im apostrophierten "global village" ist die Verletzbarkeit des Menschen extrem ungleich verteilt – sie folgt den Grenzen von "Armut" und "Reichtum", von geschäftigen Zentren und marginalisierter Peripherie. Und doch hat sich auch das Leben in Armut während der letzten 3 Dekaden verlängert: von etwa 46 auf etwa 63 Jahren, wobei freilich die Lebenserwartung im subsaharischen Afrika bei 54 Jahren liegt, Tendenz sinkend. 

Was benennen solche Zahlen und Relationen? Erstens, dass es nie zuvor in der Geschichte der Menschheit soviel relative zeitliche und räumliche Begrenzung gegeben hat wie am Anfang des 21. Jahrhunderts, gerade weil das neuzeitliche Programm der Weltvereinnahmung und Entgrenzung des Reichtums so "erfolgreich" gewesen ist. Es scheint, als wären jene Grenzen, die in den hektischen Zentren der ökonomischen Produktivität und sozialen Mobilität überwunden wurden, doppelt, dreifach vielfach an der äußeren Peripherie der zeitlich vermessenen Welt als die Menschen, Ökonomien und deren Zeiten trennende Grenzen wieder aufgerichtet worden. In den Zentren der Betriebsamkeit herrscht "Zeitnot", weil sich in dem Tempo der Gegenwart die Zukunft verwirklicht: Entwicklung, Wachstum, Produktivitätssteigerung, Mobilität sind an die systemische Verknappung von Zeit gebunden. Beschleunigung und Dynamisierung von Zeitorganisation und -rationalität setzen seit der Industriellen Revolution Mehrwerte und gesellschaftlichen Reichtum frei. In den armen Gesellschaften freilich scheint es Zeit "in Hülle und Fülle" zu geben – hier ist Gegenwart nicht ein Durchgangsstadium für das jeweils in Zukunft zu Erreichende. In den Zentren herrscht Reichtum und Zeitarmut, an der Peripherie herrscht Armut und Zeitreichtum. Die einzigen unlimitiert zur Verfügung stehenden ökonomischen Ressourcen in armen Gesellschaften sind Zeit und menschliche Arbeitskraft. Diese verwirklichen sich großteils subsistent und informell - also ohne Einsatz von nennenswertem Kapital und der Technologierationalität der Zeitverknappung und Produktionsverkürzung. Die Grenzen zwischen Armut und Reichtum treten in den statistischen Daten klar zutage, die Grenzen zwischen Armut und Verelendung – in der die materielle Reproduktion nicht mehr gewährleistet ist – verschwimmen. Der Ungleichzeitigkeit der zeitlichen Entwicklungen folgt die Ungleichzeitigkeit und Regionalisierung von Verelendung. Fraglos ist, dass diese massiv zugenommen hat, zumindest in dem Maß wie der in Geldwert gemessene Reichtum gewachsen ist. 

Quantifizierende, gemessene, exakte Vergleichbarkeit ermöglichende und Konkurrenz freisetzende lineare Zeitrationalität trifft im Zuge der kulturellen Globalisierung auf Ereigniszeitgesellschaften, in denen sowohl die Zukunft als auch die Gegenwart in einem zirkulär-zyklischen Zeitverständnis verhaftet sind. Die okzidentale Linearisierung von Zeit wächst – wie das ihr zu Grunde liegende monetäre System – exponentiell, die Zukunft wird jeweils zu einem ungewissen Raum, dessen Gefahren in jeder Handlung der Gegenwart zu minimieren sind. Es stellt sich die Frage, ob das neuzeitliche Programm zur Verlängerung des individuellen Lebens und zur Minimierung der Lebens-Risken nicht an entscheidenden Punkten gescheitert ist: Erstens sind Geld, Güter und (durch Geld bezahlte) Dienstleitungen global extrem ungleich verteilt; zweitens haben zeitliche Linearisierung und Beschleunigung zu einer dramatischen Zunahme globaler Risken geführt, die die menschliche Zukunft und damit gattungsspezifische Entwicklungspotentiale – aus heutiger Sicht – massiv gefährden; und drittens hat der "Mythos der Machbarkeit" – in dem die Gegenwart zu einem Durchgangsstadium für zu Erreichendes verkümmert – die rituelle Ordnung der Sterblichkeit, der Vergänglichkeit und damit die Akzeptanz menschlicher Begrenzung und die "Demut" gegenüber den Nachgeborenen desavouiert. Wir leben weitgehend auf Kosten der Zukunft, weil wir deren "Zeit" in die Gegenwart investieren. In folgenden Kapiteln wird eine Zeit-Reise unternommen, die einerseits den Weg von Ereigniszeit-Kulturen zum Weltzeit-System kursorisch nachzeichnet und andererseits einige Folgen der Linearisierung und Beschleunigung von Zeit vor dem Hintergrund einer epistemologischen Kritik an der Selbstverständlichkeit "unserer" Verfahrensweise mit "Welt" reflektiert. Denn wenn hier von Zeit die Rede ist, so geht es primär um den Nachvollzug der Konstitution von Weltbildern. Zeit wird hier als "soziale Zeit" beschrieben, also als kulturelle Konstruktion zur Festlegung von "sozialer Wirklichkeit". Eine Wirklichkeit, die – global betrachtet – gerade auch aufgrund unterschiedlicher Zeitrationalitäten "widersprüchlicher" nicht sein könnte. Eine Wirklichkeit, die Ungleichzeitigkeit und Paradoxie, Entgrenzung und Begrenzung, Wohlstand und Elend, Zeitreichtum und Zeitarmut in einer einzigen Gegenwart repräsentiert.  
   

Die Kunst der Rede

Lewis Mumfords berühmtes Zitat: "Die Uhr, nicht die Dampfmaschine ist der Schlüssel der modernen industriellen Welt!" (Mumford 1970) steht am Anfang unserer kurzen Reise durch divergente, kulturell bedingte Zeitrationalitäten. Für den "Uhrzeitmenschen" scheint die Ausrichtung an universal "objektive" Zeitgeber eine Selbstverständlichkeit, mehr noch eine Lebensnotwendigkeit zu sein, für Menschen freilich, die noch vorwiegend in ethnischen Bezügen leben, wäre die Delegation ihrer Bewegungen und Handlungen an eine mechanische oder digitale Maschine schlichtweg absurd. Zeit als Weltbild konstituierende Ordnung ist Teil jener kulturellen Systeme, die Kulturanthropologie und Soziologie nach gedanklichen Kriterien der Aufklärung analysieren. Moderne entsteht durch Abgrenzung von Traditionalem, moderne Gesellschaften wissen Bescheid um ihre eigenen Entstehungsbedingungen und um die "Zeit", aus der sie geworden sind; und moderne Gesellschaften definieren sich seit zumindest einem halben Jahrhundert als Mobilitätskulturen: individuelle, soziale, zeitliche und räumliche Mobilität ermöglichen nicht nur radikale Transformationen der Identität innerhalb einer Lebensbiographie, sondern auch ganzer gesellschaftlicher, politischer, wirtschaftlicher Systeme. Der kleinste gemeinsame Nenner heißt Fortschritt, eine Kategorie des Denkens, die ethnischen Gesellschaften im hier verhandelten Sinne weitgehend unbekannt ist.  

Präzision als Vorgabe für menschliches Verhalten ist ein Schlüssel zum Verständnis der Zeit in der modernen Welt, und damit auch zum Verständnis der modernen Welt selbst. Um soziale Tätigkeiten, Abläufe von Ereignissen und individuelles Handeln zu "messen" bedürfen wir eines zuverlässigen, nicht veränderbaren Außenkriteriums. Was machen zwei "politisch" ambitionierte Männer in einem entlegenen Dorf im Urwald von Papua Neuguinea - in einer Gesellschaft also, in der es weder Eisen noch Schrift, Geld oder Uhren gibt -, wenn sie ihre Gefolgschaft von der Wichtigkeit jeweils entgegengesetzter Standpunkte überzeugen wollen? Sie reden einfach drauflos! Dabei wird mitunter nicht der klügere oder ehrenwertere Standpunkt, sondern schlicht die Stärke der Stimme oder die Mächtigkeit der Erscheinung den Ausgang des Disputes bestimmen. Vor exakt diesem - sozialen - Problem standen die alten Athener. Die griechisch-antike Anwort auf das Bedürfnis nach prinzipieller Vergleich- und damit Überprüfbarkeit der Rede war die Erfindung der Sanduhr - ein Instrument mit durchaus hoher Präzision, also Zuverlässigkeit. Durch den gemessenen Intervall der Rede wurden nicht nur "gleiche" Bedingungen zwischen den Rednern hergestellt, sondern auch der Rede selbst eine Form verliehen, die Reglementierung ermöglicht. 

Zeitliche Fixierung aufgrund sozialer Bedürfnisse sind in jeder Epoche, in jeder Kultur Instrumente der sozialen Kontrolle. Gemessene Zeit spannt neben den anderen großen Symbolsystemen der Menschheit - wie Normen, Sprache, Religion, Schrift etc. - ein kultursoziologisch betrachtet immer engeres, weil präziseres Koordinatensystem über den Planeten, innerhalb dessen Handlung, Denken, Fühlen, ja das gesamte Leben des Einzelnen und der Gesellschaft organisiert werden. Entgegen dem System der Wortgefechte bei den Papuas legt die soziozentrische Zeitmessung (Elias 1990:78ff) den gewünschten Anfang und das gewünschte Ende der Rede in Übereinkunft mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen fest. Es handelt sich dabei um einen beliebig oft wiederholbaren Intervall, der freilich noch nicht in einen größeren Bezugsrahmen, in eine "objektive" Zeit eingebunden ist, der scheinbar noch unabhängig von den anderen Verrichtungen und Tätigkeiten, von Tag und Nacht und Winter und Sommer ist, der eben allein die "Zeit der Rede" beschreibt. Außenkriterien zur Festlegung zeitlicher Intervalle beschäftigen die Menschheit, so weit wir sie zurückverfolgen können, wenngleich es Jahrtausende dauern sollte, bis dem zunehmenden Bedürfnis, Zeit festzuhalten, Zeit festzuschreiben, Zeit verfügbar und damit kontrollierbar zu machen, durch Erkenntnis und Erfindungen einigermaßen entsprochen werden konnte, bis die soziozentrischen Intervalle zur "Messung" bestimmter Tätigkeiten in das große System eines "objektiven", weil durch die Rotation der Erde um die Sonne festgelegten Zeituniversums integriert werden konnten. Die Länge der "Zeit der Rede" lässt sich zwar präzise wiederholen, spiegelt aber noch nicht die scheinbare "Zeit des Universums", die fast alle von uns in Form der Armbanduhr mehr oder weniger präzise mit sich tragen. 
   

Zeitvergleiche und Diskrepanz

Menschen, die aus einer Zeit vor der gemessenen Zeit kommen, können die Präzision, mit der die Uhr individuelles Handeln an gemeinschaftliche Tätigkeit knüpft, mitunter bedrohlich und widernatürlich erleben: "I had a watch when I was at the seminary, but I gave it away, it's against my culture. It's like someone standing behind you and pointing a gun at you. I just didn't feel comfortable with a watch, it's not part of my culture!"  Ignatius Bolokon, der aus dem Hochland von Papua Neuguinea stammende Sekretär des ehemaligen Justizministers Bernard Narakobi, beschreibt eine grundlegende Erfahrung, die insbesondere jene Menschen machen, die noch in einer anderen lebenszeitlichen Ordnung, einem "zyklischen Zeitbewußtsein", einer "mythologischen Zeit" aufgewachsen sind. Dass diese Erfahrung auch den gehetzten modernen Menschen nicht fremd ist, verweist darauf, dass deren subjektives lebenszyklisches Empfinden sich dem Diktat der objektiven Uhrzeit keineswegs gebeugt hat, dass vielmehr eine oft nur mühevoll zu überwindende Diskrepanz zwischen der Lebenszeit und der Weltzeit besteht. Die Zeit vor der gemessenen Zeit lebt also ebenso in der gemessenen Zeit fort wie viele mit ihr verbundenen Vorstellungen von Welt-Werden, Wachsen, Reifen, Vergehen. Entgegen der auf Quantifizierbarkeit der Handlung und meßbarer Präzision aufbauenden Weltzeit markiert das "zyklische Zeitbewußtsein", bzw. die "mythologische Zeit" einerseits Rekonstruktion von Geschichte - woher kommen wir, wohin gehen wir, warum sind wir da? -, andererseits das zyklische - von der Physiologie des Körpers und der Psychologie unserer Seelen bis zur Veränderbarkeit der Gestirne erlebbare - Wechselspiel zwischen Entdifferenzierung und Konturierung, Chaos und Ordnung, Licht und Dunkel, Hunger und Sättigung, Fülle und Nichts. 

Die "mythologische Zeit" ist eine "in sich geschlossene" Zeit: die Wiederkehr von Lebenszyklen samt ihrer radikalsten Konsequenz der Wiederkehr von Vergangenem, auch organisch Totem; wohingegen die Weltzeit ein linear voranschreitendes Zeitsystem ist, das Zukunft als radikale qualitative Veränderung definiert, in der kaum etwas wiederkehrt, was einmal dagewesen. Wie auch immer versucht wird "Zeit" zu definieren, die westlich-ökonomische Dynamik basiert auf der kollektiven Verinnerlichung quantifizierbarer Zeiteinheiten. Zeit-Verstehen resultiert aus der "Intimität des Bewußtseins für sich selbst und mit sich selbst" (Blumenberg 1986:88). In westlichen Industrieländern wird in langen Lernprozessen eine synthetisierende, handlungspraktische Analogie zwischen der Lebenszeit und der Weltzeit herzustellen versucht, auch wenn dabei grundlegende menschliche Bedürfnisse ignoriert werden. Denn die Teleologie der gemessenen Zeit, als linearer Fortschritt kennt kein Innehalten - kein Chaos, kein Nichts, keine Entdifferenzierung der Wahrnehmung. Sie schreitet immerzu fort, bricht nie ab, kehrt demnach nie wieder, ist immerzu da, unabhängig davon, ob man an ihr teilhat oder nicht. Dieser präzise Charakter der gemessenen Zeit kann natürlich auch als gewieftes Täuschungsmanöver interpretiert werden, das dem Menschen erlaubt, sich in scheinbarer Gewißheit unabhängig von seiner physiologischen Existenz und psychischen Befindlichkeit in der Gesamtheit des zeitlichen Universums zu verankern. Insofern trägt auch die gemessene Zeit Aspekte der mythologischen Zeit in sich, auch wenn sie die wesentlichen Fragen der Menschen nicht zu beantworten vermag und in ihrer linearen Zielstrebigkeit maßlos - alle und alles vereinnahmend - voranschreitet und dem Menschen dabei nie eine Pause von sich selbst gönnt: Die Weltzeit schläft nie, die Lebenszeit täglich und die mythologische Zeit - im Sinne ihrer Verborgenheit und ritualisierten Wiederkehr - "von Zeit zu Zeit" (Eliade 1986).  

Wir alle wissen, dass zwei Minuten auf dem Zahnarztstuhl wesentlich länger dauern als zwei Minuten in einer geselligen Runde beim Wein. Ungeachtet dieses Wissens sind wir absolut davon überzeugt, dass zwei Minuten eben zwei Minuten sind, unabhängig davon, ob sie uns launig zwischen erhobenen Weingläsern verrinnen oder ob sie uns erscheinen wie eine halbe Stunde. Wir alle haben unsere Lektion gelernt und teilen die - relativ junge - Auffassung einer zeitlich quantifizierbaren Wirklichkeit jenseits der Grenze unseres Körpers und unserer Seele, die beide oft ein anderes Tempo vorgeben. Ja es schiene geradezu absurd, wenn wir bezweifelten, zwei Minuten seien eben mal länger oder kürzer als zwei Minuten. Denn der Zeitintervall zwei Minuten lässt sich eben exakt messen. Umgekehrt wäre es für einen analphabetischen Dorfbewohner im Hochland von Papua Neuguinea absurd, wenn wir ihm erklärten, dass das Fixieren der Beute, das Spannen des Bogens, das Ausrichten des Pfeiles und schließlich die Tötung des Tieres etwa so lange dauert wie das Anreiben von Feuer mit Stein, Stössel und trockenem Gras. Dieser Vergleich wäre für ihn deshalb absurd, weil sich die Frage des Zeitintervalls für ihn so nicht stellt. Denn gemessene Zeit ist für ihn keine Kategorie - also kein Charakteristikum - individuellen oder gesellschaftlichen Handelns, und obendrein lebt er in einer Welt, in der es keine einzige Handlung gibt, die sich zeitlich exakt wiederholen lässt, wie z.B. in unserer Welt der Zeitintervall zwischen dem Abheben des Telefonhörers und dem Signal der Freileitung. In unserer Welt spiegeln uns die Maschinen jene zeitliche Ordnung, der wir glauben unterworfen zu sein. Dem Jäger im Hochland von Papua Neuguinea ist es völlig egal, wie lange die Tätigkeit dauert, sofern das Ziel der Tätigkeit im Hinblick auf die eingesetzten Techniken befriedigend erreicht wird und ihm nicht etwa die Beute entwischt. Es gibt also auch in der Zeit vor der gemessenen Zeit das "in time", aber es bezieht sich auf die keineswegs präzise und keineswegs zeitlich verallgemeinerbare Erfahrung von Erfolg oder Mißerfolg.  

In einer auf Konkurrenz aufbauenden Leistungsgesellschaft wird die Erfahrung von Erfolg und Mißerfolg verzeitlicht. Diese Verzeitlichung ist Grundlage einer expandierenden Ökonomie, Technik, Leistungssteigerung. In ethnischen Gesellschaften, wie sie noch im Hochland von Papua Neuguinea anzutreffen sind, gibt es natürlich Formen des Wettkampfes, z.B. Kräftemessen oder Akkumulation begrenzter Ressourcen, aber es gibt keine Verzeitlichung des Mitteleinsatzes und der Zielerreichung. Dies wäre auch für die Gesellschaftsmitglieder bedrohend, denn daraus könnte sich ergeben, dass einer den anderen immer um den "entscheidenden Schritt" voraus ist, was die Köhasion - den sozialen Zusammenhalt der Gruppe, in der jedes Mitglied für das jeweils andere lebensnotwendig ist - gefährden könnte (Obrecht 1995:364-452). Die Zeit vor der gemessenen Zeit ist vielmehr eine Zeit der Zyklizität: In vielen ethnischen Gesellschaften stellen Jahreszeitzyklen - Erntezeiten, Trockenzeiten, Regenzeiten etc. - den allgemeinsten Raster dar. In Teilen von Papua Neuguinea fehlen selbst diese Zeitmarkierungen, weil aufgrund des tropischen Klimas und der frühen Hortikultur-Bewirtschaftung keine fixierbaren erntezeitzyklischen Intervalle, keine "Jahreszeiten" also, das Leben der Gesellschaftsmitglieder strukturieren. Lebensphasen werden durch "rituelle Überschreitungen" wie Initiation, Verheiratung, Mannwerdung, Kampftauglichkeit, Menstruation, Krankheit, Verhexung etc. markiert, durch körperlich-seelische Kategorien von "Reife" oder "Schwäche" oder "Konflikt", bzw. durch außergewöhnliche Ereignisse wie Kriege, Brände, Unfälle etc. Lebenszeit und mythologische Zeit stehen so in einem vertrauten Verhältnis zueinander, es gibt keine übergeordnete zeitliche Ordnung, in die man sich einzufügen hat oder mit der man - wie obiges Zitat gezeigt hat - in tiefen Widerspruch geraten kann. Das Vordringen der weltzeitlich-linearen Ordnung durch deren Wegbereiter Schule, Geld, Lohnarbeit, Christianisierung, Güter, Mobilität etc. bis hin in die entlegensten Winkel des Urwaldes bringt freilich die Zeit vor der gemessenen Zeit und deren soziale Organisation in immer größere Bedrängnis. Eine Diskrepanz tut sich auf, die auch wir - seit längstenfalls einigen Generationen "modernisierte" Menschen - tagtäglich am eigenen Leib erfahren können: Die Diskrepanz zwischen subjektiv empfundener Lebenszeit und objektiv vorgegebener Weltzeit. Und damit die Diskrepanz zwischen dem, was als wirklich gilt und dem, was als wirklich erlebt wird.  
    

Ereigniszeiten

Die Zeit vor der gemessenen Zeit ist bestimmt durch die Dauer einer sozialen Tätigkeit. Zwischen diesen Ereigniszeiten und der uns selbstverständlich erscheinenden Uhrzeit liegen ein breites Spektrum unterschiedlichster menschlicher Zeiterfahrung bzw. Zeitempfindung und zehntausende Jahre menschlicher Entwicklungsgeschichte. Von der Perspektive der Uhrzeitkultur aus erscheinen Ereigniszeitkulturen als prinzipiell langsam, wenig dynamisch, kaum expansiv, ökonomisch an den engen Rahmen der Selbstversorgung gebunden - erwirtschaftete Überschüsse werden nicht planvoll in die "Zukunft" investiert - und auch oft "schlecht" organisiert. Zeitlich präzis aufeinander abgestimmte gemeinschaftliche Tätigkeit scheint ebenso wenig vorhanden wie die Notwendigkeit, sich einem Tempo unterzuordnen, das nicht den lebenszeitlichen biologischen Rhythmen entspricht. Ein hoher Grad an Komplexität - so wie dies aus der Perspektive der Uhrzeitkultur definiert wird - setzt die gemessene Zeit als verbindliches Koordinatensystem aller in der Gemeinschaft lebenden Individuen voraus; Kulturen, die diese Systemzeit nicht kennen, werden als "einfach", in der frühen kulturanthropologischen Sprachregelung als "primitiv" betrachtet. Komplexe Formen der Arbeitsteilung, Produktivität, intensive Bewirtschaftung, technische Innovation etc. lassen sich in Ereigniszeitkulturen aus der Perspektive der Uhrzeitkultur nicht finden, und betritt man eine solche Welt, so erscheint sie schlichtweg als zeitlos. Da wo es keine gemessene Zeit gibt, scheint es dann auch keine Lebensperspektive zu geben. Und fürwahr setzt der Begriff der Perspektive ein Konzept der Zukunft, der Entwicklung, des Fortschritts voraus, das Ereigniszeitkulturen nicht kennen. Unwillkürlich fragt sich der Besucher mit Präzisionsarmbanduhr: Was machen die Menschen da eigentlich? Und erst wenn dieser Besucher seine eigene Rastlosigkeit und damit Ratlosigkeit abgelegt hat, ergibt sich die Antwort ganz von selbst: Sie leben.  

Diese und ähnliche Gedanken gingen mir durch den Kopf als ich im Jahre 1997 die melanesische Insel Masahet aufsuchte, auf der meine Kollegin, die Ethnopsychologin Sigrid Awart Feldforschungen durchführte. Sigrid Awart, die von den hier lebenden Unavus "adoptiert" wurde, hatte den liebevollen Beinamen Sanabeh erhalten, was soviel heißt wie: Die, die ständig auf etwas wartet, was nicht kommt. Masahet kann in einem Tag zu Fuß umrundet werden, die vier Streusiedlungen der Unavus-Ethnie fassen insgesamt etwa 800 Einwohner. Bis vor kurzem ist die Population auf dieser Insel konstant geblieben und dies schätzungsweise seit etwa 5.000 Jahren. So weit reicht die Besiedelung der Inseln in dieser Region zurück. Erst in den letzten Jahren sind einige junge Leute von der Insel fortgegangen, um in der Goldmine auf der Insel Lihir zu arbeiten (Awart 1997; Obrecht/Awart 1999:203-229). Für die Gartenarbeit - Süßkartoffel, Yams, Taro, Maniok - und die Schweinezucht werden in Masahet im Durchschnitt täglich zwei, drei Stunden aufgewendet, Fischfang und Früchte ergänzen den Speiseplan. Wie in allen melanesischen Gesellschaften gibt es die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung; so sind die Männer etwa für den Hüttenbau und die Korbflechtereien zuständig, die Frauen hingegen für die Aussaat und Ernte bestimmter Feldfrüchte, für die Schweinehaltung und die Holzschnitzereien. Die Unavus sind gesellige Leute oder anders ausgedrückt: Geselligkeit ist das Prinzip dieser "zeitlosen" Gesellschaft. Die allermeisten Tätigkeiten werden gemeinschaftlich - in der jeweiligen Geschlechtergruppe - verrichtet. Wie in allen ethnischen Gesellschaften gibt es keine Trennung zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Immer wird gescherzt, diskutiert, gelacht, Betelnuss gekaut oder auch gestritten. Rückzug in "Privacy" ist - ebenfalls wie in allen ethnischen Gesellschaften – weitgehend unbekannt. Es hat nichts mit Romantik zu tun, wenn man der einfachen Tatsache ins Auge blickt, dass das Leben in einer solchen Gesellschaft nicht etwas ist, das, nach einem bestimmten zeitlich vorgeschriebenen Reglement, immer auf "zukünftige" Ereignisse ausgerichtet, gelebt werden muss.  

Für Uhrzeitmenschen stellt diese einfache Tatsache eigenartigerweise einen komplizierten Vorgang der Abstraktion dar, denn der Uhrzeitmensch definiert Ereignis als ein Mittel für etwas anderes, als ein Durchgangsstadium zu etwas anderem. Was dieses Andere ist, muss im Einzelfall gar nicht bekannt sein, wir wissen nur, dass die Zeit, die Gegenwart genutzt sein will, um uns in der Zukunft als andere sehen zu können, als wir jetzt sind. Der Uhrzeitmensch lebt in der ständigen Rastlosigkeit, sich aus sich selbst heraus neu zu erschaffen und sich für die Zukunft optimal gewappnet verfügbar zu halten. Er verfügt über ein bestimmtes Zeitnutzungspotential, nur wenn er die Zeit nicht nutzt - oder wenn er sie nicht "befriedigend" konsumiert - entsteht Langeweile. Langeweile ist ein Produkt der Zeitverknappung. Nur in einer Gesellschaft, die sich fortwährend hetzt und von dem einen in das jeweils andere hastet, existiert so etwas wie Langeweile. Langeweile ist dann der Zustand, aus den Zeitnutzungsoptionen freiwillig oder gezwungenermaßen keine Wahl getroffen zu haben. In einer Gesellschaft, in der Streß unbekannt ist, gibt es auch keine Langeweile, weil die Gegenwart nicht definiert ist durch die verschiedenen einander konkurrierenden Möglichkeiten zu nutzender oder zu konsumierender Zeit. Auf Masahat hat es 5.000 Jahre keine Langeweile gegeben. Dies könnte sich rasch ändern. Denn mit jedem auf die Insel zurückkehrenden Arbeitsmigranten, der eine zeitlang in der Stadt oder in der Goldmine gearbeitet hat und damit das zeitverknappte Leben der prinzipiell unlimitierten Zeitnutzungsoptionen - Geld, Güter, Mobilität, Elektrizität, Video etc. - kennengelernt hat, hält auch die Möglichkeit der Empfindung von Langeweile allmählich Einzug auf der Insel.  

Ereigniszeitmenschen ist Langeweile unbekannt. Für sie ist der Umgang der Uhrzeitmenschen mit Leben gleichermaßen unverständlich wie unsereinem die Tatsache, dass Menschen mit nahezu unveränderten Produktionsmitteln und Produktionsmethoden seit tausenden von Jahren auf einer kleinen Insel im Südpazifik sitzen, wo sich offensichtlich "nichts tut." Und dennoch: Hält man sich nur lange genug in einer Ereigniszeitkultur auf, so erfühlt man, dass auch in ethnischen Gesellschaften unterschiedliche Tempi, Rhythmen, Zyklen den "Ton angeben", also aus sich heraus die soziale Ordnung strukturieren. Wir sehen dann, dass es zwar keine Romantik ist, dass andere Gesellschaften - gemessen an unserer - zeitlos erscheinen, dass es aber keine Gesellschaft gibt, in der Zeit kein zentrales Ordnungskriterium für Leben ist. Nur die Zeit, die der Organisation von Leben vorgegeben wird, ist eben eine völlig andere. 
    

Biophysiologie und Zeitsozialisation

Der Anthropologe Eduard Hall nennt die Zeit die "stumme Sprache" der Kulturen (Hall 1959). Aus ihr ist mitunter mehr zu erfahren als aus der gesprochenen Sprache. Auf der Insel Masahet haben wir das u.a. dadurch gelernt, dass wir - allesamt Sanabehs - auf das Zustandekommen einer Versammlung aller Dörfer, die unser Team filmen wollte, exakt elf Stunden gewartet haben. Um zwölf Uhr mittags wurde die Versammlung vor dem Haus des "Chiefs" vereinbart, etwa um diese Zeit tatsächlich ein großer Gong vor dessen Hütte mehrfach angeschlagen. Wir hatten die Kamera bereits aufgebaut und wunderten uns nicht wenig darüber, dass überhaupt erst nach zwei, drei Stunden die ersten Gäste eintrafen. Schließlich war es elf Uhr nachts, als der Chief erklärte, die Versammlung sei nun in ein wichtiges Stadium getreten, weil nun alle Führer und Ältesten der Dörfer eingetroffen seien und Beschlüsse gefaßt werden können. Die solargeladenen Akkus der Kameras waren längst leer, als wir etwas entnervt das Handtuch warfen. Die Situation schien uns nicht nur nicht präzise, sondern vielmehr außerordentlich anarchisch zu sein. Fraglos aber hatte für den Chief das Ereignis "Versammlung" mit dem ersten Schlag des Gongs, als die Sonne im Zenit stand, "pünktlich" begonnen. 

Nun wird der Leser vielleicht einwenden, dass es logisch erscheint, dass Zeit in den verschiedenen Kulturen unterschiedlichst gehandhabt wird, was wiederum zu sehr unterschiedlichen Formen von sozialen Übereinkünften führen mag, dass es aber doch fraglos objektiv vorgegebene Zeitintervalle im bio-physiologischen und neurophysiologischen Bereich gibt, die zumindest - was den Körper der Menschen betrifft - zu ähnlichen zeitlichen Abläufen und Reglements in allen Kulturen führen müssen. Dem hält die moderne Neurophysiologie freilich entgegen: "Genauso wenig wie wir durch die Struktur unseres Gehirns selbst auf eine bestimmte Raumanschauung festgelegt sind, sind wir auf eine bestimmte absolute Zeit festgelegt. Es scheint ... bemerkenswerterweise keine eindeutigen lokalen Beziehungen im Großhirnbereich zu geben, die für einen einheitlichen Zeitsinn verantwortlich sind." (Oeser/Seitelberger 1995:208f). Das menschliche Gehirn ist also keineswegs ein "objektiv" physiologischer Zeitgeber für den Raum, den wir durch unser Bewusstsein erfahren, ebenso wenig scheinen dies andere biologische Rhythmen zu sein – setzten diese nämlich "menschliche" Zeit, so müßten sie schneller als die kleinsten "erlebbaren" Zeiteinheiten sein, die von den Sinnesphysiologen als "Momente" bezeichnet werden: "Meßbar sind diese Momente, die unterschiedlich sind, weil sie von der Modalität und dem Komplexitätsgrad der Reize abhängen, dadurch, dass man das Zeitintervall feststellt, in dem noch gerade das zeitliche Nacheinander von Ereignissen unterschieden werden kann. Da aber alle diese Momente ... nach genauen Untersuchungen im Bereich von Millisekunden liegen, kommen Atmung oder Herzschlag als Zeitgeber nicht in Frage." (Oeser/Seitelberger 1995:210; vgl. Grüsser 1983). 

Um die Relativität biophysiologisch "vorgegebener" Rhythmen zu veranschaulichen werfen wir einen kurzen Blick in eine nächtliche Hütte im Hochland von Papua Neuguinea. Bei den Mianmin, einer einige tausend Mitglieder umfassenden Ethnie habe ich einige geschlechtsspezifische Schöpfungsmythologien dokumentiert, bin also der Frage nach der Zyklizität der Zeit und der "Umkehrung" ihrer Richtung in der gegenwärtigen sozialen Ordnung nachgegangen (Obrecht 1995, 1998). Untypisch für das Hochland - normalerweise ist der Männerhausbereich vom Frauenhausbereich getrennt - leben alle Mitglieder einer Großfamilie in einer Hütte. Wird es Abend und Nacht, so gibt es für den Uhrzeitmenschen bei den Mianmin - wie übrigens auch in vielen anderen ethnischen Gesellschaften - eine interessante Entdeckung zu machen: Denn die Schlafenszeit ist von Essenszeit und Gesprächszeit, von haushälterischen Verrichtungen, vom Kochen, Korbflechten etc. - nicht getrennt. In der zeitlich-organisch strukturierten Mianmin-Gesellschaft besteht keine Notwendigkeit des Reglements der Alltagszeiteinteilung. Die ganze Nacht über gibt es in einer solchen Hütte Bewegungen, die einander weder stören, noch als hinderlich füreinander angesehen oder erlebt werden. Während einige Mitglieder der Familie schlafen, wird gesprochen, geraucht, nach draußen gegangen, Feuerholz geholt, mit Kindern gespielt, geflochten; oft wachen Mitglieder nach kurzen Schlafperioden wieder auf und knüpfen selbstverständlich an das Gespräch an, das sie vor dem Einschlafen geführt haben. Auch unter Tags gibt es genug Möglichkeiten, im Schatten einer Pandanus Schlaf zu finden. Die subjektive Müdigkeit bestimmt den Schlafrhythmus und nicht die Anpassung der physiologischen Müdigkeit an ein gesellschaftlich verbindliches Zeitmodell von Wach- und Ruhephasen. Selbst der Schlaf wird in vielen Ereigniszeitkulturen zu einer "zeitlich" äußerst variablen Tätigkeit. 

Schon Kleinkinder werden in der westlichen Gesellschaft in linearen Zeitrastern sozialisiert – u.a. durch emotionale Zuwendung und Ablehnung, bzw. durch von der Erwachsenenwelt verordnete Ruhephasen -, ein Umstand, der auch immer wieder für ethnopsychoanalytische Spekulationen über die daraus resultierenden Unterschiedlichkeiten psychologischer und charakteriologischer Strukturen Anlass gegeben hat. Die Bewegungen der Körper in Ereigniszeitkulturen lassen sich nicht unter das Koordinatensystem der Verzeitlichung aller Lebensbereiche subsummieren. Das Ziel, der Fortbestand der Gruppe, ergibt sich aus der Ungleichzeitigkeit individueller und dennoch gesellschaftlich organisierter Verrichtungen. Westliche Zeitökonomie hingegen beschreibt ein "Muster des Selbstzwanges" (Elias 1990:XVIII-XIX), das das Individuum an die Zeit als soziale Institution rückbindet. Es bedarf gezielter Lern- und Erfahrungsschritte, "objektive" Zeit als Eigenzeit zu erleben; wer diese Lernschritte nicht macht, der wird es schwer haben, im Verein der Uhrmenschen einigermaßen problemlos zu bestehen. Obgleich "objektiv" vorgegeben, wird der "richtige Umgang" mit der Zeit in die "Eigenverantwortlichkeit" des Subjektes gelegt. Dies entspricht der Individualisierung des Menschen im Zuge der Modernisierung, die ohne präzises zeitliches Koordinatensystem gar nicht denkbar wäre. Die "Welt der Uhren" wird so in jedem einzelnen jeweils neu reproduziert und konstituiert das Bild von Wirklichkeit in der wir, die modernen Menschen, leben. Die sich daraus ergebenden Widersprüche von Zeit, Gesellschaft und Ich sollen im Inneren des Individuums homogenisiert werden. Die zeitliche Zergliederung der Welt soll in dem Ich der Uhrmenschen zu einem autonomen Ganzen vereinigt werden. Das freilich erscheint oft als Quadratur des Kreises - denn jeder von uns weiß, wie gefährlich es ist, die Ordnung der Uhr zu verlassen, gerade weil es eben so schwierig ist, sich dann wieder in sie einzufinden. 

Auch in dem Uhrzeitmenschen liegt also ein gehöriges Maß an Eigenzeitkultur verborgen, das dann sichtbar wird, wenn dieser die Gelegenheit findet, aus der zeitlichen Tretmühle zumindest für eine gewisse Zeit "auszusteigen" und kühn genug ist, sich nicht gleich wieder in eine andere vorgegebene Zeitnutzungsoption hineinzubegeben - wie dies z.B. im organisierten "Erholungstourismus" der Fall ist. Wenn unsere Gesprächspartner in Papua Neuguinea immer wieder auf ihre praktischen Schwierigkeiten verweisen, mit dem Zeitparadigma der Moderne umzugehen, so haben sie damit implizit die von uns allen erfahrbare Diskrepanz von Eigenzeit, Lebenszeit und Weltzeit angesprochen. Je schneller das Tempo einer Gesellschaft wird, desto größer scheint diese Diskrepanz zu werden. Westliche Produktionslogik und Erfahrungsrationalität trägt diese Diskrepanz unter dem Chiffre der "Individualisierung" bis hin zu den letzten Ereigniszeitkulturen dieser Welt - auch in die Städte und Produktionszentren Papua Neuguineas: Ökonomische Produktivität durch zeiteffiziente Erweiterung der Produktionsräume und planvolle Einbindung der diesen neuen Organisationsprinzipien untergeordneten Individuen, Geld- und Kapitalakkumulation - als zeitlicher Multiplikator individueller und gesellschaftlicher Bereicherung -, Leistungsmotivation - durch Projektion etwaiger Belohnung in die Zukunft -, all diese interkorrelierenden Faktoren eines die Erreichung jeweiliger "Etappenziele" anstrebenden "universalen Fortschritts" bedürfen einer quantifizierbaren, meßbaren und die Subjekte scheinbar gleich und damit konkurrenzfähig voreinander auf Distanz haltenden Grundlage - die dem ganzen Geschehen eine "gewünschte Richtung" gibt. Die präzise Gestaltung der Zukunft ist nur aufgrund der präzisen Organisation der Gegenwart möglich. Die Weltzeit ermöglicht dem Uhrmenschen sich selbst in der radikalen Umgestaltung seiner Welt zu verewigen. Der Preis, den er freilich dafür zahlt, ist, dass er in keinem Ereignis der Gegenwart mehr sein kann.  
     

Wege zur gemessenen Zeit

Der französische Anthropologe Claude Lévi Strauss unterscheidet zwei prinzipielle Möglichkeiten wie die Gesellschaft mit ihrer eigenen Geschichte umgehen kann: Entweder sie akzeptiert oder sie negiert Geschichte als fortwährende Veränderung. Mythologische - oder wie er es nennt - mythische Zeit entscheidet sich für die ungeschichtliche Art des Daseins (Lévi-Strauss 1981:251ff). Mythen sind Bilder und Geschichten zur Ursprungs- und Welterklärung. Die ritualisierte Wiederkehr der Mythen in der Erzählung, im Kult, in den Übergangsriten bindet das gegenwärtige Dasein in "identifizierender Weise" an die Vergangenheit. Die ungeschichtliche Zeit der Archaik erscheint so als symbolische Repräsentanz der "Urzeit". Daraus entsteht Gewissheit über die Welt, aber auch relative Statik, denn die Welt wird in alten Bildern, nicht aber in neuen Paradigmen gedacht (vgl. Dux 1998:203ff). Zeit wird in Ereigniszeitkulturen als fortschreitende Gegenwart betrachtet. Geschichtliche, historische Zeit hingegen entwirft eine Koordinatik der Vergangenheit, die eine Chronologie fortwährender Veränderung beinhaltet. 

In der historischen Zeit gibt es zwar keine nicht-hinterfragbare Rückbindung an verbindliche Welterklärung, doch die "Richtung der Zeit" wird eindeutig definiert: Die Zukunft, der die Gegenwart logisch nachgeordnet ist, ist von zentralem Interesse, und nicht die Gegenwart, die sich in einer sinnbildlichen Vergangenheit sicher geborgen weiß. Die Chronologie der historischen Zeit suggeriert der Gegenwart die Gleichzeitigkeit alles Seienden und diese Geichzeitigkeit ermöglicht erst den Blick in die Zukunft. Entgegen der ungeschichtlichen Zeit, in der Leben nicht als etwas begriffen wird, was zukünftig gestaltet werden muss, kann sich das Leben in historischen Zeiten gerade deshalb auf das Kommende einrichten, weil es aufgrund der Chronologie der Vergangenheit um den Charakter der fortwährenden gesellschaftlichen Veränderung Bescheid zu wissen glaubt. Zwei zentrale Kulturtechniken sind für das Entstehen der historischen Zeit nötig: die Schrift und die universale Zeitmessung. Beide Kulturtechniken sind Ereigniszeitkulturen fremd und entstehen erst in frühen Hochkulturen als Folge zunehmender gesellschaftlicher Komplexität und damit als Folge des sozialen Bedürfnisses nach neuen Formen der sozialen Organisation. Auch die vorwiegend kultische Funktion der frühen Zeitmessung dient diesem sozialen Bedürfnis. In weiterer Folge wird die Herrschaft über und die Verwaltung von Menschen in großen arbeitsteiligen, hierarchisierten sozialen Einheiten die gemessene Zeit zur Festlegung der Bewegung der Körper und Tätigkeiten ebenso erfordern wie das schriftlich fixierte Wissen um Vergangenes, das Planung und Prognose ermöglicht. 

Zwischen der mythologischen Zeit und der durch die Präzisionsuhren bestimmten Weltzeit liegen Jahrtausende menschlicher Zeiterfahrung, deren erste Verschriftlichungen Meilensteine auf dem Weg zur exakt gemessenen Zeit darstellen. Babylonier, Ägypter, Griechen, Römer, Inkas und Mayas verfügten schon über präzise Zeitmesssysteme - und -instrumente wie Sonnen- oder Wasseruhren. Doch schon Jahrhunderte vor der Entwicklung der ersten Zeitmesssysteme gab es insbesondere in Ackerbaukulturen kultische Ereignisse, die an das Auftauchen bestimmter Himmelserscheinungen gebunden waren. Diese freilich wurden nicht in einem astronomischen, sondern in einem magischen Sinne interpretiert, denn der Lauf von Sonne und Mond bestimmten den "Zeitpunkt", wann unsichtbare Mächte und Wesenheiten z.B. die Aussaat, die Rituale und Opfer, die Tänze und die Ernte nahelegten. Voraussetzung für diese Anbindung von sozialer Tätigkeit an astronomische Konstellationen in frühen Ackerbaugesellschaften war die stete und genaue Beobachtung des Himmels, denn es war unmöglich zu wissen ob, geschweige denn zu berechnen, wann eine stellare Konstellation wiederkehren würde (Elias 1990:65). Erst die Verschriftlichung der astronomischen Beobachtung in den antiken Hochkulturen erlaubte jene Chronologie der Vergangenheit zu erstellen, die eine exakte zeitliche Prognose der Wiederkehr der gleichen stellaren Konstellation ermöglichte. 

Nicht nur die Deutung und Nutzung von Himmelserscheinungen zum Zwecke gemeinschaftlicher Tätigkeit oder zur Navigation in frühen seefahrenden Kulturen (Schmied 1985:81) charakterisieren den langen Weg zur gemessenen Zeit. Eine Vielzahl z.T. auch heute noch beobachtbarer Außenkriterien legen das Wann? oder das Wie lange? in Ereigniszeitkulturen fest. Diese Festlegungen sind aus der Perspektive des Uhrzeitmenschen natürlich allesamt sehr unpräzise, markieren aber dennoch Übergänge zur Strukturierung von menschlichen Tätigkeiten mit Hilfe eines außerhalb seiner selbst liegenden Kriteriums oder Vergleiches. Die Messbarkeit dieser Zeitintervalle ist aber - entgegen der astronomischen Vorgangsweise - kulturell gebunden, weil nur von jenen, denen die gleiche Alltagserfahrung zugrunde liegt, anwendbar. Wir kennen aus außereuropäischen Kulturen eine Vielzahl von Zeitbegriffen, die soziale Tätigkeit in Bezug setzen zu alltagsweltlichen Erfahrungen: Begriffe wie "die Zeit des Melkens", oder "die Zeit des Wasserholens", oder "die Zeit, in der die Rinder zur Tränke gehen" sind mir bei meinen eigenen Forschungsaufenthalten bei rinderhaltenden Ethnien Ostafrikas oft begegnet. 

So stehen etwa die Zebu-Rinder im Mittelpunkt der Mura-Gesellschaft am Ufer des Lake Victoria in Tansania. Die Rinder stellen das familiale Kapital und das patriarchale Sozialprestige dar, bilden die ökonomische Grundlage und werden auch zur Zahlung des Brautpreises verwendet. Herdengrößen von mehreren hundert Stück sind keine Seltenheit. Die Rinder geben der Mura-Gesellschaft das Tempo vor, bestimmen den Ablauf des Tages samt dessen saisonalen Veränderungen. So werden in den Trockenzeiten die Rinder bis zu 100km ausgetrieben, was die Zeitmaße selbst, je nach jahreszeitlicher Notwendigkeit, verändert. Jedem Mura aber ist demnach klar, dass z.B. "die Zeit, in der die Kühe zur Tränke gehen" ein höchst variabler Begriff ist, der seine "Genauigkeit" freilich durch die selbstverständliche Kenntnis der Jahreszeitzyklen und deren Bedeutung für die Rinderhaltung erhält (Obrecht u.a. 1997). 

Die Wege zur gemessenen Zeit sind dadurch gekennzeichnet, dass die Zeit noch an den Raum gebunden ist. In der "physikalisch" gemessenen Zeit der Uhrzeitmenschen ist der Raum der Zeit logisch vorgeordnet, denn Zeit ist das Distanzmaß der Rotation und der Bewegung der Objekte im Raum. Wenn die Zeit an den Raum gebunden ist, so haben alle Objekte, Abläufe und Handlungen ihre Zeit, genauso wie die Menschen ihre Eigenzeit haben - die sich ja in der Alltagserfahrung auch dadurch ausdrückt, dass wir alle unterschiedlich lange leben. Erst die Ablösung der Zeit vom Raum ermöglicht die "Verobjektivierung" des Zeitlichen und die Skalier-, Meß- und Vergleichbarkeit aller Bewegungen in Zeit und Raum. Die enge Bindung der Zeit an den Raum in Ereigniszeitkulturen schafft eine Gegenwart, die nicht fortwährend auf Zukünftiges verweist. In der indianischen Sprache der Dakota bezeichnet der Begriff "dehan" sowohl "an diesem Ort, hier" als auch "zu dieser Zeit, heute" (Dux 1998:125). Wenn die Zeit in den Dingen und dem Jetzt steckt, dann ist sie freilich etwas, was durch die Dinge, bzw. genauer gesagt durch deren Bewegung "in Gang gesetzt" werden muss. Die Feststellung "in den afrikanischen Stammeskulturen muss die Zeit selbst geschaffen werden" (Mbiti 1967:40ff). gilt für eine Vielzahl von Ereigniszeitkulturen, in denen erst die Logik der Handlung Zeit setzt, die unabhängig von den Dingen und Menschen und ihren Räumen noch nicht vorhanden ist. 

Selbst wenn frühe Zeitinstrumente in Ereigniszeitkulturen zur Vergleichbarkeit von menschlichen Anstrengungen herangezogen werden, so ist es nicht die "objektive Zeit", sondern die Zeit des jeweiligen Instruments, das als Indikator verwendet wird: Wenn in nativen Kulturen Malaysias in einen Wasserkübel gelegte und mit einem Loch versehene Kokosnussschalen einen bestimmten Zeitintervall für den sportlichen Wettkampf vorgeben - es geht dann dabei z.B. darum, möglichst weit zu laufen, bis die Kokosnuß gesunken ist -, so ist es doch "die Zeit der sinkenden Kokosnuß", die mit der Bewegung des Läufers korreliert und nicht eine von der Kokosnuß und dem Läufer losgelöste "objekte" Zeit. Von der Perspektive der Uhrzeitmenschen aus scheinen die Verfahren zur Bestimmung von Zeitintervallen vor der gemessenen Zeit deswegen unpräzise zu sein, weil sein zeitlicher Bezugsrahmen die von ihm - auch von seiner physischen Existenz - losgelöste physikalische Zeit ist. Die Vorstellung, dass so etwas Wichtiges wie die Zeit subjektiviert werden könnte oder schlimmer noch überhaupt Subjektivistisches als Strukturelement in sich trägt, muss den Uhrzeitmenschen zutiefst verunsichern: Denn gerade die von ihm losgelöste Skalier- und Messbarkeit ermöglichende metrische Zeit garantiert ihm erst den Forstbestand der Ordnung seiner Welt. 
   

Die Weltzeit

Die Zeit der gemessenen Zeit hat das Ticken der Uhr in die Fort-Bewegungen und das Ich der Menschen eingeschrieben. Bewegung ist ein lineares Kontinuum, das einen scheinbar grenzenlosen Raum aufspannt, durch den wir uns fortwährend von uns fort, auf uns zu bewegen. Die gemessene Zeit schafft Distanz und Nähe zwischen Menschen. Durch sie werden Handlungen miteinander vergleichbar, aber auch kontrollier- und steuerbar. Nichts entgeht der gemessenen Zeit, denn sie thront wie ehedem ein universeller Gott über ihren - ihrer in jeder Sekunde des Lebens gewahr seienden - Untertanen: Der Uhrzeitmensch knüpft die Rationalität seines Denkens und seines Handelns gleichermaßen selbstverständlich an die gemessene Zeit wie ehedem der mittelalterliche Mensch seine Bewegungen an Gott gebunden wusste. Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit beginnen sich alle menschlichen Unternehmungen auf ein zeitlich definiertes Ziel hin auszudehnen. Dies gilt für die Philosophie und die aufkommenden Wissenschaften, in denen die Welt als Uhr, als maschinelles Artefakt gesehen wird, ebenso wie für die enorme Entfesselung der ökonomischen Produktivität, die alle Verkehrswege - von Kommunikation über Transport bis hin zum Geldumlauf - immens beschleunigt. 

Das seit etwa der Mitte des 17. Jahrhundert mit einer Rechenmaschine analog gesetzte menschliche Denken vermag künftiges Tun ebenso zu planen wie das Verhalten von "fallenden Steinen", ja ganzer Planeten- und Sonnensysteme zu prognostizieren (Obrecht 2000a). Der Vernunft ist keine Grenze gesetzt, außer der Grenze ihrer eigenen Vernünftigkeit, die sie nicht überschreiten darf. Dies bedeutete Rück-schritt und würde die Errungenschaften, die im Kampf gegen die Gefahren der Natur und die menschlichen Risken erzielt würden, empfindlich gefährden. Vernünftiger als vernünftig freilich kann kein Mensch sein, also befindet sich die Menschheit im Zuge der neuzeitlichen Natur- und Selbstbeherrschung auf dem "richtigen" Weg: Das Gesicht der alten Welt, deren Schöpfer ein strenger Gott war, dem man sich unterzuordnen hatte, soll radikal verändert werden, auf dass der "kleine Gott in jedermann" zu seinem je eigenen Recht und zu seiner je eigenen Welt gelangt. Dieses neuzeitliche Unternehmen ist keine kosmetische Operation, sondern eine radikale Neugestaltung der Schöpfung - eine schier unglaubliche Emanzipation von den "natürlichen" Bedingungen des Seins, Werdens und Sterbens. 

Um das große Programm der "Neuerschaffung der Welt" durchzusetzen bedarf es einer neuen universalistischen, alle Bewegungen gleichermaßen erfassenden und zueinander in Beziehung setzenden Zeit und des Aktes der Distanzierung und Abstraktion von sich selbst. Cogito ergo sum - das zentrale Motto neuzeitlicher Identitätsfindung korrespondiert mit der zentralen Errungenschaft der neuen zeitlichen Ordnung: Das autonome Individuum Mensch erfährt durch die Konstruktion der Weltzeit eine Rückbindung an diese Welt. Die Weltzeit verbindet Millionen "Selbst im Gehäuse" zu der großen Idee der Menschheit, die sich aus sich selbst heraus erschafft. "Herr" über die Schöpfung zu werden heißt vorerst einmal, "Herr" über sich selbst, "Herr" über die Zeit zu werden. Die gemessene Zeit gibt hierfür das Tempo vor. Die gemessene Zeit liefert auch die Bewertungskriterien für das Erreichen oder Verfehlen prognostizierter Ziele. Weltzeit ist ein Organisations- und Zuordnungsprinzip, das jeder Bewegung, jedem Unternehmen eine "gewünschte Richtung" gibt. Die Teleologie der Weltzeit ist die Reproduktion und Erschaffung der Welt in immer kleineren Zeiteinheiten. Erst diese Teleologie der Beschleunigung erklärt die Entfesselung menschlicher Produktivität und das radikal veränderte Gesicht der Schöpfung - von den Sorgenfalten des Ozonloches bis hin zu dem Blick in die unendliche Weite der eigenen "Unsterblichkeit", wie er sich in keineswegs utopischen Szenarien der Gentechnologie abzuzeichnen beginnt. 

Die Genese der zeitlichen Messung und des Zerteilens des Raumes gebiert die absolute Zeit - die Weltzeit, die in sich selbst nicht mehr teilbar ist, weil ihr Mikro- und Makrokosmos gleichermaßen "gehorchen". Der Raum ist aber nicht nur durch die Rotation der Objekte, sondern vor allem auch durch jene der Subjekte definiert. Die europäische Kulturgeschichte zeigt uns, dass in den Subjekten - zeitlich verzögert und erst im 17. und 18. Jahrhundert voll zur Geltung gelangend - dasselbe Verfahren der Meßbarkeit und Verortung im prinzipiell absoluten Raum angelegt wird, das die Objekte der Natur aus der mittelalterlichen Endlichkeit und Abhängigkeit herausgeführt hat. Die menschliche Alltags- und Lebenszeit wird an die systemische Weltzeit angebunden, unter die alle Objekte und Subjekte gleichermaßen scheinegalitär subsummierbar sind. Diese Entwicklung läuft parallel zur Entwicklung des absolutistischen Staates in Europa. Zentralisierte und hierarchisierte bürokratische, ökonomische, pädagogische etc. Institutionen sind ohne Verinnerlichung der gemessenen Zeit als Maßstab der Bewegung zwischen dem Einzelnen und den anderen nicht denkbar. Erst die Durchsetzung des Welt-Zeit-Prinzips - und damit der Teleologie der jeweils für die Zukunft definierten, anzustrebenden und schließlich zu erreichenden "Ziele" - in den meisten Bereichen des täglichen Lebens ermöglicht die weitgehend lückenlose Verwaltung und Kontrolle von Menschen, die die zeitlichen Prinzipien dieser Disziplinierung weitgehend zu jenen ihres eigenen "persönlichen" Fort-Schritts gemacht haben (Obrecht 2000b:26-50). Fort-schreiten und somit Veränderung wird zum Strukturprinzip der Weltzeit, dem auch alle politischen Formen der Emanzipation folgen. Denn in diesen wird nicht das Strukturprinzip, dessen sich die jeweils Mächtigen bedienen, geändert, sondern die Verfügungsgewalt über die Zeit und damit die Verfügungsgewalt über andere Menschen wird neu aufgeteilt.  
     

"Moderne" Zeiten und Zeitflucht

Weltzeit als Spiegel rascher Veränderung kann in traditionellen Systemen wie den Hochlandgesellschaften Papua Neuguineas, in denen Zeit keine Kategorie der Entwicklung neuer sozialer und ökonomischer Strukturen darstellt, als lineare Metapher nicht entstehen (Nisbet 1980). Die Sinnstrukturen eines solchen Systems konstituieren das, was durch sie und in ihren Horizont von den Zeitgenossen und Partizipanten ihrer Sinngebung als das Selbstverständliche hineingenommen wird. Das geschieht schon oder noch, wenn Zeit nicht als Dimension wesentlicher Veränderungen und fortwährender Dynamik erscheint: "Dann kann sich jeder der Zeitgenossen und Partizipanten auf das Leben für ein Leben einrichten. Der Wert von Erfahrungen, die im Leben gewonnen oder aus vorherigen Generationen zugelassen und normierend übernommen sind, bleibt als das jeweils Erlernbare stabil, bezugsfähig, traditionsgültig," schreibt der Philosoph Hans Blumenberg, der sich in seinem Werk intensiv mit der Diskrepanz zwischen der Lebenszeit, wie er es nennt, und der Weltzeit auseinandersetzt (Blumenberg 1986:86). Keiner von uns kann hinter die Grenze der Modernisierung und Individualisierung - im Sinne des "Zusammenbruchs" stabiler, bezugsfähiger, traditionell übernommener Erfahrungen - zurück, wir alle richten unser Leben auf die Zukunft aus, weil wir aufgrund der Strukturprinzipien der Weltzeit unser Leben nicht als Gegenwart, sondern als Zukunft und Veränderung begreifen. Wir müssen die Zeit und die Welt so sehen, weil wir sonst nicht in dieser Zeit und in dieser Welt leben könnten. Wir müßten, wenn wir die Welt nicht mehr so sehen können, Zeitflüchtlinge werden, die sich in andere Räume, nämlich jene begeben, in denen einmal Erreichtes, Gedachtes, Erfahrenes für die ganze Spanne eines Lebens gültig bleibt. Diese Räume, in denen ein Teil der Bewohner Papua Neuguineas noch lebt, werden von Tag zu Tag rarer. 

So stringent wir in das Weltzeitsystem und sein Paradigma der Veränderung eingebunden sind, so sehr spüren wir auch die Inkongruenz und Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der subjektiven Zeit, der Lebenszeit und der objektiven Zeit, der Weltzeit. Wir haben uns schon gedanklich auf den Zahnarztstuhl gesetzt und auch an einer weinseligen Runde teilgenommen und wir haben dabei festgestellt, dass zwei Minuten eben nicht immer zwei Minuten sein können. Die zwei Minuten, die uns verlorengegangen sind, und die zwei Minuten, die sich wie eine halbe Stunde angefühlt haben, sind ein sinnfälliges Symbol für die Abkoppelung der Lebenszeit von der Weltzeit, die einen wesentlichen Akt im Prozeß der Universalisierung der Menschheit markiert. Denn komplexe soziale Systeme könnten durch eine subjektivistisch festgelegte Zeitordnung nicht existieren - wir kennen kein einziges solches System, das ohne die gemessene Zeit als Strukturprinzip besteht. Die Verzeitlichung aller Lebensbereiche, und die Öffnung der Schere von Weltzeit und Lebenszeit wirft immer wieder die Frage nach der Bewältigung der Inkongruenz, des Auseinanderdriftens von subjektiv empfundener und objektiv vorgegebener Zeit auf, "damit implizite die [Frage, d.A.] nach der Möglichkeit der Verweigerung, des Willens zur Zurückzwingung beider in die Kongruenz." (Blumenberg 1986:87). Wir alle entwerfen unterschiedliche Strategien, um mit dieser Inkongruenz umzugehen: wir stellen Uhren nach vor, um trotz subjektiven Zeitempfindens der objektiven Zeitanforderung gerecht werden zu können, wir haben uns ein ganzes Arsenal an Rechtfertigungen zurechtgelegt, wenn wir selbst oder unsere Erledigungen nicht "in time" sind, wir gönnen uns "off-Zeiten" oder besuchen Zeitseminare, um mittels eines besseren Zeitmanagements den Gefahren, die unserer Planung vonseiten des lebenszeitlichen Empfindens drohen, zu minimieren. 

So umfassend der moderne Mensch dem Diktat der Weltzeit unterworfen sein mag, ständig läuft er Gefahr, sich in Zeitlosigkeit, also in nicht zeitlich strukturierter und gemessener Zeit zu verlieren. Diese Gefahr wird umso virulenter, je mehr die Verfügungsgewalt der Zeit "individualisiert" wird. Flexibilisierung und Deregulierung - die Schlagworte der "postmodernen", auf immens beschleunigten Kommunikationstechnologien basierenden globalen Ökonomie -, bezeichnen eine nicht mehr als zwanzig Jahre alte Entwicklung in den westlichen Industrieländern, die die Organisation der Zeit und deren Kontrolle tendenziell immer mehr dem Einzelnen "überlässt". Das, was diesem früher in hierarchischen Arbeitsprozessen extern vorgegeben war, muss dieser nun sich selbst von Tag zu Tag neu "vorschreiben". Deregulierung und Flexibilisierung führen entgegen den Aussagen der Protagonisten dieser "neuen" Arbeitsformen nicht zu weniger, sondern zu mehr Zeitdruck. Ein Zeitdruck, der im Inneren des Menschen ausgetragen und indirekt sanktioniert wird, wohingegen ein Verstoß gegen externe Zeitsetzung - etwa beim Zuspätkommen zum Arbeitsplatz - mit direkten Sanktionen beantwortet worden ist. 

Das Über-Ich der Weltzeit, als bestimmender Gott des individuellen und gesellschaftlichen Fortschritts, gemahnt den Einzelnen fortwährend an die Erfüllung seiner Pflicht gegenüber dem individualisierten Strukturprinzip der Weltzeit: Beschleunigen, Fort-Schreiten, Zeit-Nutzen. Stillstand, Zeitverlust oder gar bewußte Zeitvernichtung sind in der modernen Welt keine läßlichen Sünden. Sie sind ein schreckliches Vergehen an dem Grundkonsens des modernen Lebens, denn sie richten sich direkt gegen diesen neuen Gott. Stillsteher, Zeitverlierer und Zeitvernichter werden insbesondere auch in Zeiten der sogenannten Deregulierung und Flexibilisierung geächtet und natürlich bestraft. Sie gelten in den westlichen Industrieländern als nicht kompetitiv, also als nicht markttauglich und werden sich - falls sie ihre Lebensform nicht ändern - früher oder später in jenem Drittel der Gesellschaft wiederfinden, das weder an der "Entwicklung" noch an der "Dynamik" noch an der "Produktivität" derselben partizipiert. Um dies zu verhindern, sind wir allseits auf der Hut, uns kein Zeitdelikt zu Schulden kommen zu lassen - egal ob uns nun die Zeitkoordinaten zur Verrichtung unserer täglichen Bewegungen extern vorgegeben sind, oder ob wir sie "frei wählen" können. Wir wollen ja weiter-kommen - beruflich wie privat. 

Die Konstruktion der Weltzeit manifestiert sich natürlich am augenscheinlichsten durch die vielen Versuche, die "Zeit der Menschen" zu standardisieren und raumunabhängige Kalendarien zu erstellen. Ein kurzer Blick auf die Geschichte dieses Unternehmens zeigt, wie lange es freilich gedauert hat, bis sich das weltzeitliche Prinzip auch in einem globalen semiotischen System ausdrückt. Obgleich einigermaßen exakte Kalendarien schon in frühen Hochkulturen (Otto 1954:135-148) die Sonnen- und Mondjahre zur Einteilung und semiotischen Festlegung der "Menschenjahre" heranzogen, ist die globale Vereinheitlichung der gemessenen Zeit jungen Datums. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts erfolgte eine weitgehende Standardisierung in den europäischen Ländern, bis dahin hatte es von Stadt zu Stadt verschiedene Ortszeiten gegeben (Geißler 1999:81). Die neue Territorialzeit wurde durch die Einteilung des Globus in 24 Zeitzonen schließlich zur Weltzeit, der sich nach und nach auch Kulturkreise mit eigenem Kalender - z.B. der jüdische und der moslemische - anschlossen. Die Globalisierung der gemessenen Zeit hat also erst vor knapp einhundert Jahren begonnen und war erst im Jahre 1948 mit Chinas "Beitritt zur Weltzeit" abgeschlossen. Die auf dem römischen Kalender basierende christliche Zeitrechnung hatte sich weltweit durchgesetzt. Sie wurde neben den anderen, auch heute noch gültigen Territorialzeiten zur "offiziellen " Zeit des weltweiten Güter-, Kapital- und Reiseverkehrs. 

Die Symbole dieses Weltzeit-Systems, das Ticken der vorerst mechanischen und schließlich das unhörbar exakte Voranschreiten der digitalisierten Uhr, "verobjektivieren" das Tempo und die Logik der gemessenen Zeit zu einer in der Natur scheinbar feststehenden, absolut gültigen zeitlichen Ordnung. Das soziale und das natürliche Universum werden eins in der Wahrnehmung der Menschen; zu jeder Zeit, an jedem Ort ist man Teil der absoluten, unabhängig von einem selbst, schier grenzenlos fortdauernden zeitlichen Bestimmtheit der Welt. Die soziale Zeit und die "natürliche" Zeit korrelieren miteinander, ihre rechnerische Einteilung und die sich daraus ergebende Raumvermessung spannen ein nahezu perfektes Koordinatensystem an Zuordnung von Bewegungen über den Planeten, seine Menschen und schließlich das Universum. Ein Koordinationsystem, das nicht nur die Organisation des Einzelnen, sondern ganzer Staaten und schließlich ganzer globalisierter Staatensysteme effizient ermöglicht. 
    

Lebenszeit und Lebenserwartung

Ökonomische und kulturelle Globalisierung, Urbanisierung, Modernisierung der Lebensstile, Erhöhung der sozialen Mobilität etc. setzt die Universalisierung von systemischer Weltzeit im "global village" voraus. Schule, Lohnarbeit, Christianisierung, Individualisierung des Produzenten als Konsumenten, die damit verbundene Auflösung des "ganzen Hauses" und subsistenter Bewirtschaftungsformen führen insbesondere in den Städten der "armen" Länder zu einer neuen Abhängigkeit der Menschen von durch sie nicht mehr beeinflussbaren externen zeitlichen und organisatorischen Systemerfordernissen. Grundlegende kulturelle Orientierungen, wie Subsistenzwirtschaft, Umverteilung und magische Glaubenssysteme, die in den meisten ethnischen Gesellschaften anzutreffen sind, werden – trotz vielfältiger Widerstände – tendenziell desavouiert. So bereiten sich weitreichende gesellschaftliche Transformation vor, die in Analogie zu unserer eignen europäischen Geschichte gesehen werden können: Zukunft wird nicht nur prognostiziert, sondern nach den je eigenen Interessen auch geplant und "gemacht". Der Vorstellung der "Machbarkeit" von eigener Geschichte und Zukunft liegt weitreichende Säkularisierung zu Grunde. Nicht mehr Gott, Götter, Dämonen oder Geister setzen die Zeit, es ist der Mensch selbst, der über sie verfügt, sie gestaltet. Wer über die Zeit herrscht, der herrscht auch über andere Menschen. Wer über die Zeit herrscht, setzt die Grenzen für andere.  

In der Logik subsistenzwirtschaftender Gesellschaften findet durch Modernisierung bedingte Lebensverlängerung auf Kosten möglicher werdender Leben statt: Es gibt keine beobachtbare Gesellschaft, in der die Lebenserwartung steigt und die Fertilität nicht sinkt. Der Grad der Monetarisierung einer Gesellschaft und der Grad der Investition in "Grundbedürfnisse" bestimmen die Wachstumsraten. Die Senkung der Kindersterblichkeit etwa ist der höchst korrelierende Faktor mit abnehmenden Reproduktionsraten. Die Auflösung subsistenzwirtschaftender Produktionsformen und die dadurch erfolgende Anbindung an die Geldökonomie verunmöglichen tendenziell Kinderreichtum. In dieser Logik wird das Leben in Armut um den Preis eingeschränkter Reproduktion verlängert. Die finanziellen Kosten pro Kind vervielfachen sich, und das Geld, das in individuelle Lebensverlängerung investiert wird, fehlt für die "Verlängerung des Lebens" über den individuellen Tod hinaus, die in subsistenten Ökonomien durch möglichst viele Kinder gewährleistet war. Lebensverlängerung ist auch die Folge eines exemplarischen subjektzentrierten Mitteleinsatzes. Und daher eine sinnfällige Metapher für Individualisierung. Dies scheint Menschen in Mobilitätskulturen selbstverständlich zu sein; unter Bedingungen genereller Armut freilich ist Lebensverlängerung eine Folge der Anpassung an neue ökonomische Strukturen, die Menschen und Lebenszeit in Geldwert bemessen.  

Der indische Soziologe Rahnema meint, dass der Verlust der "Ökonomie des Todes" wohl das einschneidenste und folgenreichste Geschehen in der Konstituierung der "zweiten Moderne" und der aus ihr weltweit resultierenden ökonomischen Ausbeutung und kulturellen Bevormundung ist (Rahnema 1993). In allen heute noch existierenden "nichtindustriellen" Gesellschaften gibt es eine genealogische Verbindung über den individuellen Tod hinaus, die Lebenden stehen in einem Nahverhältnis zu den Toten und oft auch zu den Ungeborenen. Diese religiöse und auch rechtliche Bindung (Hasenfratz 1998) begrenzt die Verfügungsgewalt der Lebenden: Den Nachfahren "dienstbar" zu sein, heißt auch die Gegenwart nicht auf Kosten der Zukunft zu leben. Diese Bindung des Lebens an den Tod und umgekehrt ist nach wie vor Realität für vier Fünftel der auf diesem Planeten lebenden Menschen. Sie war auch Realität in der europäischen Kultur, bis die massenhafte Produktion von Bedürfnissen und Gütern zur "Erfüllung" derselben umfassende Säkularisierungsprozesse bedingt und den Todesvollzug außerhalb einer "produktiven" Verwertung gestellt hat (Ariés 1987). So etwa glauben nur mehr 25% der Österreicher, dass Gott sinnstiftend für ihr Leben ist, 63% verneinen die Frage bezüglich eines Lebens nach dem Tod, und nur 16% haben die Erfahrung gemacht, "mit einer Person in Verbindung zu stehen, die bereits gestorben ist" (Sozialer Survey 2000, Market 2000, Obrecht 2000c:231). So irrational, weil zeitvergeudend, das Gebet geworden ist, so irrational ist die Beschäftigung mit den Toten: Tot ist der, der nicht mehr produziert, konsumiert und an der physischen Mobilität nicht mehr Teil haben kann. Tote erinnern uns in peinlicher Weise daran, dass der "Allmachts- und Machtbarkeitsphantasie" der Neuzeit zumindest im individuellen Bereich enge Grenzen gesetzt sind. 

Die de facto Lebensverlängerung gilt als "heilige Kuh" der Modernisierung, die zur Rechtfertigung des neuzeitlichen Programms der Sicherheit und Weltvereinnahmung ins Treffen geführt wird. Abgesehen davon, dass die enormen Kosten für die kollektive Lebensverlängerung extrem ungleich verteilt sind – auch in den Ländern der "Dritten Welt" selbst -, und oft durch eine Medikalisierung der Psyche und der Physis erkauft ist, die letztlich dahin führt, dass wir gar nicht mehr sterben können, gründet sich die Legitimität dieser Argumentation auf ein rein quantifizierendes lineares Zeitverständnis. Damit wird der Tod zu einem sinnlosen Zerstörer unserer vermeintlichen Allmacht und unserer durch die Pluralität von Zeitnutzungsoptionen definierten Individualität. Illegitim hingegen ist es, die aufgrund des gesellschaftlichen Reichtums erzielte Lebensverlängerung als zivilisatorischer Höhepunkt im Kampf gegen die Unsicherheiten und Zufälligkeiten des Lebens zu relativieren. 

Universaler, auf Prognostik und Manipulation der Welt beruhender Fortschritt diktiert auch in einem technisch-quantitativen Sinn das lebenszeitliche Empfinden von "modernen" Menschen: Die statistische Berechnung von Lebenserwartungs-Zeiteinheiten ist nur durch die Einbindung des Subjekts in das universal-lineare Zeitmodell möglich. Lebenszeit und Alter, als relationale Begriffe seelisch-körperlicher Bewegungen, und Sterben, als Ausdruck der Rückbindung einer vergangenen Zeit an den Ursprung des Lebens, werden im weltzeitlichen Denken zu quantifizierbaren Wahrscheinlichkeiten, die das Eintreffen des biophysiologischen Phänomens des Todes auf den individuellen Abbruch der Linearität reduzieren. Trotzdem geraten das subjektive Empfinden eigener Vergänglichkeit und weltzeitliche Linearität in einen Indifferenzbereich, den die beste Gesundheitsvorsorge nicht zu klären vermag: Die Lebenserwartung wird statistisch errechnet, durch massive Investitionen erhöht; gesellschaftlicher Fortschritt und Verlängerung der statistischen Lebenserwartung werden in der westlichen Welt faktisch gleichgesetzt, obwohl dieser "Fortschritt" natürlich nichts mit der je individuellen Lebenszeit und deren Beendigung zu tun hat, aber doch genau als ein solcher ausgewiesen und "empfunden" wird. 
      

Organisches und Anorganisches

In der "alten Ordnung der Sterblichkeit" erfüllt sich das Leben innerhalb jener Zeit, die für das Durchschreiten von Lebensphasen zur Verfügung steht: Kindheit, Jugend, Maturität, Erwachsensein, Elternschaft, Alter, Tod. Wenn in der reichen Welt jugendliche Achtzigjährige am Golfplatz spielend das Gefühl nicht loswerden können, in ihrem Leben viel versäumt zu haben, weil die Zeit zur Verwirklichung aller attraktiv erscheinenden Zeitnutzungsoptionen letztlich viel zu knapp war, dann haben sie in ihrer Vorstellung von Leben und Lebensverwirklichung fraglos zu kurz gelebt. Wenn ein Papua im Hochland von Neuguinea mit Anfang Fünfzig bereit ist zu sterben, und deshalb die sein Leben beschreibenden Zyklen erfüllt weiß, dann ist sein Leben nicht zu kurz gewesen, denn er hatte genug Zeit durch Kindheit, Initiation, Mannwerdung, Reife und Altern zu gehen. Niemand kann ihm diese Selbstgewißheit in der Erfüllung seiner Zeit nehmen. 

Zeitzweifel sind Phänomene reicher und Zeitnutzungsoptionen gegeneinander verrechnender Gesellschaften, in denen Leben als umfassendes Bedürfnisbefriedigungsszenario und damit zwangsläufig als Mangelerscheinung begriffen wird. Satter als satt freilich kann man nicht sein, auch wenn sich die Zeiträume zwischen den Sättigungen auf Kosten der Zukunft verflüchtigt haben. Der reiche Alte hat keine Zukunft, weil er keine Vergangenheit hat, die den prinzipiell entgrenzten Möglichkeiten auch nur annähernd entsprochen hätte. Er bleibt nach einem langen Leben allein und entleert zurück in einer Welt der unermeßlichen Fülle, und steht einem absurden Tod gegenüber, der ein rastloses Leben ersatzlos beendet. In "traditionalen" Gesellschaften, die einem zirkulär-zyklischen Zeitverständnis verhaftet sind, findet die – aus unserer Perspektive – höchst "begrenzte" Vergangenheit der Alten ihre Verlängerung in einer Zukunft, an deren Existenz und Sinn auch angesichts des Todes nicht gezweifelt wird. In religiösen oder magischen Kosmen entgrenzt sich die Begrenzung des Daseins in einem Leben nach dem Tod, das dem kurzen irdischen Leben zumeist sehr ähnelt. Der Mangel, den wir Reiche angesichts der "Armut" empfinden, tut der Erwartung an der Weiterführung dieses Lebens offenbar keinen Abbruch. 

Der biologische Sinn des Sterbens liegt in der langfristigen Anpassung des physiologischen Lebens an die natürlichen Rahmenbedingungen, in der steten "Verjüngung" der Lebewesen durch das Prinzip der Sterblichkeit, in der dadurch entstehenden Voraussetzung für strukturelle Differenzierung und zunehmende Komplexität. Organisches Leben, Lebendiges ist definiert durch stetes Werden und Vergehen. Unsterblichkeit macht aus biologischer Perspektive keinen Sinn, die Evolution käme zum Stillstand, und die Folge davon wäre zwangsläufig der endgültige Tod der betroffenen Art (Benecke 1998:262f). Leben setzt eine gigantische Bewegung in Szene, angesichts derer das individuelle "Schicksal" und dessen je individuelle Verarbeitung sich geradezu unbedeutend ausnimmt. Und doch: Jeder Geborene und jeder Sterbende ist das Ergebnis einer äußerst erfolgreichen genealogischen Geschichte, deren individuelle Träger menschliches Leben - mit all seinen Merkmalen - weitergegeben haben: einer Kettenreaktion gleich, die uns nicht nur in die Welt gesetzt, sondern diese auch durch uns bestimmen ließ. Die Lebenden und die Toten blicken auf eine Millionen Jahre währende Ahnenreihe zurück, deren erfolgreiches Denken und Handeln die Wirklichkeit zu dem gemacht haben, was sie jetzt für uns ist: Denn alle "Erklärungen", zu denen wir über die Art und Weise, wie wir die Welt gestalten, gelangen - von der "Mechanik" der Steinwerkzeuge bis zur "Kybernetik" der Marsflüge -, beziehen sich jeweils auf das System, innerhalb dessen sie "Gültigkeit", "Effizienz" und "Praktikabilität" erlangen. Außerhalb dieser - kulturellen - Systeme ist nichts mehr vorzufinden außer organische oder anorganische Materie, denn außerhalb seiner selbst kann der Mensch - entgegen den lange Zeit "gültigen" okzidentalen erkenntnistheoretischen Vorstellungen - nichts erfahren, benennen, geschweige denn verwirklichen (Maturana 2000). Die Wirklichkeit, so wie sie uns entgegentritt, ist ein Produkt der kulturellen Ordnung, innerhalb derer die Wirklichkeit als wirklich gedacht und erlebt wird. 

Organisches ist definiert durch die Wirklichkeit des Todes, Anorganisches durch die Wirklichkeit relativer "Unsterblichkeit". Heute schon tasten wir uns sukzessive an die Rekonstruktion und Reproduktion des Prinzips des Organischen und damit des Todes heran - gleichsam als letzte irdisch bedeutsame Raumüberschreitung. Die "Leugnung" des Todes - von der Lebenspraxis bis hin zu diversen "philosophischen" Ansätzen insbesondere des New Age - begleitet immer radikaler die riskante Frage, ob sich die Prinzipien der Moderne - Veränderung, Verfügbarkeit, Verewigung - auch auf den Tod und über denselben hinaus anwenden lassen. Die "Beantwortung" dieser Frage experimentiert in zwei unterschiedliche Richtungen: Durch die Rekonstruktion der Welt als kybernetische, selbstdenkende Maschine soll menschenanalogen Systemen - relativer – "Ewigkeitsstatus" verliehen werden; durch gentechnologische Manipulation soll in die Strukturprinzipien des Lebens selbst - und damit auch seiner Endlichkeit - eingegriffen werden. Da keine Technologie, die jemals ersonnen wurde, nicht verwirklicht wurde, stehen wir vor der - zumindest versuchten - Abschaffung der Endlichkeit. Beide Unterfangen, Maschinenwelt und Gentechnologie widersprechen den Strukturprinzipien des Lebens, auch wenn sie diese auf der Ebene der "gemachten" Welt rekonstruieren, kopieren und modifizieren. In der kollektiven Phantasie entgrenzten Reichtums laufen Testprogramme zur Vernichtung des Todes - und damit zur Vernichtung des Organischen und der Zeit. Der neuzeitliche Auftrag zur Selbsterschaffung des Menschen und seiner Welt wird ernster genommen und radikaler umgesetzt als jemals zuvor - weltanschaulich, sozial, technologisch. 
   

"Umkehrung" der Zeit und Entschleunigung

Von diesen Entwicklungen sind die armen und marginalisierten Gebiete völlig abgeschottet. Sie "profitieren" nicht einmal von den "Nebenprodukten" dieser riskanten Wissenschaft – etwa im pharmakologischen Bereich. In armen zeitreichen Gesellschaften stehen Leben und Tod in einem vertrauten Verhältnis zueinander. Dieses Verhältnis freilich erfährt im Zuge der "Modernisierung" weitreichende Transformationen. Denn Monetarisierung und "Modernisierung" bedeuten in diesen Gesellschaften nicht nur die Anbindung an die Geldökonomie, sondern vor allem auch die Anbindung an den Fetisch Warenwelt. Dadurch werden die genealogische und die zeitliche Ordnung tendenziell "umgekehrt". Die enorme Faszination, die der Warenwelt entgegen gebracht wird, trägt quasi-religiöse Aspekte. Es lassen sich nicht nur soziales Prestige und symbolische Kapitalien akkumulieren, sondern es läßt sich auch die Vergangenheit gegenüber der eigenen Gegenwart und Zukunft fundamental relativieren: In einer von starker Modernisierung betroffenen Gesellschaft sind es die Jungen, die wissen, "wo es lang geht", die traditionale Bindungen lösen, neue Identitäten erwerben und soziale Mobilität erlangen können. Mythologische, genealogische und religiöse Kategorien zur Strukturierung und Erklärung von Wirklichkeit werden durch Warenbesitz und Geldwirtschaft "gesprengt". Die "mobile" Welt konstituiert sich nach Kriterien der "Nützlichkeit" und "Akkumulation", wodurch der Zeit ihr zirkulärer Charakter genommen wird. Fortschritt bedeutet nicht nur ökonomische Prosperität – Nullwachstum wird undenkbar -, sondern wesentlich auch individuelles "Weiterkommen"; und das in allen Lebensbereichen. In zehn Jahren die- oder derselbe zu sein wie heute gilt in Mobilitätsgesellschaften als "Armutszeugnis", wohingegen zeit- und räumlich relativ stabile Identifizierungen und Beziehungen die – auch ökonomische – Basis einer jeden subsistenzwirtschaftenden Gesellschaft darstellen. Die durch beschleunigte, arbeitsteilige Produktion enstehenden Objekte der Konsum- und Warenwelt suggerieren Zeitlosigkeit, gerade weil sie beliebig ersetzbar sind. In der zeitverknappten "Mangelgesellschaft" kann temporäre "Vervollständigung" in immer kürzeren Intervallen erreicht werden. Geld – prinzipiell unlimitiert akkumulierbar – und die "Erfüllung" der Sehnsucht nach Dauer durch steten Konsum bedingen fundamentale Veränderungen in den sozialen Strukturen ehemals traditioneller Gesellschaften. 

Obgleich in der westlichen Welt keine wie immer geartete Revision des Prinzips der Beschleunigung auszumachen ist, wissen wir seit zumindest drei Dekaden, dass uns dieser "Fortschritt" in gefährlicher und teilweise suizidal anmutender Weise an die "Grenzen des Wachstums", an die Systemgrenzen unserer "Überlebensbefähigung" gebracht hat (Worldwatch Institute Report 2001). Nachhaltige Systeme basieren nicht auf exponentiellem Wachstum. Spätestens wenn sich die Weltbevölkerung in etwa 100 Jahren bei zwischen 11 und maximal 13 Milliarden Menschen "eingependelt" haben wird (USA-Agency for International Development 2000), müssen nachhaltige, nicht auf Wachstum und Akkumulation basierende Formen der Bewirtschaftung gefunden sein, die eine langfristige Zukunft im "global village" ermöglichen. Dieses Szenario ist an eine radikale zeitliche Entschleunigung von Produktion und Konsum gebunden, tangiert nicht nur ökonomische, sondern vor allem auch politische, soziale und kulturelle Weichenstellungen: Der Primat neoliberaler Wirtschaftspolitik und hegemonialer Interessen muss zugunsten einer transnationalen "global governance" ebenso zurücktreten, wie die dramatische Verkürzung des Planungs- und Prognosehorizonts zugunsten langfristiger, sich nicht an raschen Profiten orientierenden "Entwicklungen". Die Eliminierung der "globalen Apartheid" (Nuscheler 1996) muss Teil dieses globalen Zukunftsprogrammes sein: Fortwährende Entgrenzung begrenzt die Zukunft der überwiegenden Mehrheit der auf dem Planeten lebenden Menschen in einem alarmierenden Ausmaß. 

Die "Moderne" ist in eine Zukunft aufgebrochen, in der schließlich alles vorstellbar und machbar erschien. Doch dieser Aufbruch in die letztlich unbegrenzte "Machbarkeit" könnte sich als Aufbruch in die radikale Selbst-Verewigung und somit in die gezielte menschliche Selbstvernichtung herausstellen. Denn Zeit entzieht sich grundsätzlich ihrer "Machbarkeit": Je mehr Zeit "gemacht" wird, desto weniger Zeit gibt es. Je mehr Leben "gemacht" wird - und in der Abstraktion der Objektwelt gedacht wird - desto schneller nähern wir uns dem Zustand des Todes - der Ewigkeit - an. Das Verewigungsprogramm der Moderne zielt darauf ab, diesen Tod, diese Ewigkeit im Diesseits der - dann freilich kein Leben mehr in sich tragenden - Welt zu verwirklichen. 
            

Weltenschöpfung und –vernichtung

Schöpfung und Vernichtung, Zeit und Zeitlosigkeit liegen auch in der Mythologie nahe beieinander. Wie wird Schöpfung metaphorisch ausgedrückt und gleichzeitig in Frage gestellt? Durch das Paradoxon der Zerstörung ihres Ursprungs und die durch uns scheinbar lebendig, aber so kurzlebig gewordene Zeit. Der Ursprung der Zeit erscheint in allen Kulturen als Grenzbegriff von Ruhe und Bewegung. "Urgott" - "Urzeit" allen Anfangs und allen Endes. Weltenschöpfung und -zerstörung verschwimmen in der Geschichte des menschlichen Denkens über sich selbst und die Zeit. Siva ist im Hinduismus als Atman der Urgrund der Welt - Weltenerbauer und Weltenzerstörer zugleich. Tawhito bedeutet "Ursprung" und wird bei den Maori mit den weiblichen und männlichen Geschlechtsteilen gleichgesetzt (Dux 1998:216). Ein Phallus kann aber nicht nur Leben zeugen, sondern auch "erschlagen", die "gefräßige" Vulva der Göttin des Todes gebiert Leben ohne Unterlaß, um es "gleichzeitig" zu vernichten. In vielen archaischen Kulturen entsteht die Identität des Lebens durch den - symbolischen oder tatsächlich herbeigeführten - Akt der Tötung. Magie und Opfer vereinen sich in einer Weltzerstörung und Welterschaffung reproduzierenden Sexualität (Dux 1998:220): Zeit, organisches Leben muss "überlistet" werden, um nicht in die Bedeutungslosigkeit anorganischer Materie zu verfallen. Der Widerstreit zwischen Tod und Leben schafft die Struktur der beseelten Welt.  

Der Verfinsterung des Himmels, der Zerstörung folgt Erneuerung. Auf den Inseln im Südpazifik entsteht jedes neue Leben durch den Tod - ein Geist verwandelt sich auf der Totenreichinsel in jenen Körper, durch den das neugeborene Kind an dieser und aller Sterblichkeit Anteil hat. In afrikanischen und auch karibischen Gesellschaften wird das Kind als Vater, bzw. Mutter der Eltern angesprochen. Die Spirale der Reinkarnation - gleich in welchem System sie gedacht wird - entspricht dem Strukturgesetz alles Lebendigen. Erst wenn im Übergang zu den Stadtstaaten aufgrund der Verfügbarkeit und Organisierbarkeit von Leben - dieses wird sukzessive in den Bereich menschlicher Handlungskompetenz gestellt - eine neue Beziehung zum Tod gesucht und "gesichert" werden soll, entsteht so etwas wie "Metaphysik" - jenseits der archaischen Logik des Todes als lebenserhaltendes und lebensvoraussetzendes Prinzip. Diese Metaphysik "individualisiert" das einzelne Leben im Verhältnis zur "Ordnung des Seins", der Tod beginnt Identität aufgrund personaler Beziehungen - "Schuld" oder "Liebe" etwa (Dux 1998:224) - vehement zu bedrohen. Die Gewalt des Todes wird in dem Moment grenzenlos, in dem sich herausstellt, dass Kultur, dass "gemachte Welt" letztlich nichts dazu beitragen kann, Ewigkeit zu sichern.  

Mythologisch betrachtet ist das durch die Dynamisierung und Linearisierung von Zeit vorangetriebene neuzeitliche Modernisierungsprogramm an einem entscheidenden Wendepunkt, an einer "Wendezeit" angelangt. Zukunft bedarf einer Gegenwart, in der Zukünftiges nicht vorweggenommen ist. Zukunft bedarf der Zeit zu Sein, die in der reichen Welt durch das kontinuierliche Auseinanderdriften von Lebenszeit und Weltzeit, von biologischer und kultureller Zeit, verlustig geraten ist. In den Bedingungen der "Erfüllungsversessenheit" und Beschleunigung kehrt die panische Angst vor dem Tod, gegen die das Programm der Moderne angetreten ist, in radikaler Form wieder und kann nur durch die symbolische Vernichtung und die symbolische Reproduktion des Lebens selbst kompensiert werden. Dies ist ein gefährlicher Umgang mit Wirklichkeit, denn er suggeriert, dass wir erst dann nichts mehr versäumen, wenn es nichts - also keine Zeit und keine Zukunft - mehr gibt, das versäumt werden kann. Die Vernichtung von Zeit - als Strategie gegen die Verletzbarkeit durch unsere Sterblichkeit - könnte sich als fatale Einbahnstraße herausstellen, an deren Ende sich die antizipierte Fülle in absolute Leere verkehrt. Marianne Gronemeyer findet treffende Worte für die Beschreibung dieser letzten Anstrengung, aus den Grenzen, die das Menschsein in seiner bisher bekannten Form setzt, ein für allemal auszubrechen: "Wenn die abendländische Zivilisation aus panischer Todesfurcht und exzessiver Versäumnisangst hervorgegangen ist, wenn sie nur einen Teil ihrer Wurzeln darin hätte, dann ist die grausame logische Konsequenz, dass nicht Determinismus, sondern Exterminismus das letzte Stadium der Zivilisation ist. Sind nicht die bestürzende Gewissenlosigkeit, die unglaubliche Unbedenklichkeit und Leichtfertigkeit, mit der die Zukunft abgeschrieben und den kommenden Generationen das Wasser abgegraben wird, Indizien dafür, dass die beruhigendste Form des Umgangs mit der Zukunft für den in seine Lebenszeit eingeklemmten Menschen ihre Abschaffung ist?" (Gronemeyer 1996:141). 

Der "moderne Mensch" will dem biologischen Selektionsdruck, der kränkenden Endlichkeit seines Seins entwachsen. Der Mensch als biologisches Wesen soll nicht mehr auf Kosten der Individualität verjüngt, sondern eben diese Individualität soll auf Kosten anderer Lebewesen ad infinitum verlängert werden. Die aus unglaublichem gesellschaftlichen Reichtum - auf Kosten der überwiegenden Mehrheit der auf diesem Planeten lebenden Menschen - hervorgegangenen Technologien suggerieren die "Machbarkeit" dieses endgültigen "Transformationsprogrammes". In der Humangenetik wird die radikale Lebensverlängerung für reiche Identitäten vorbereitet. Die "gemachte", die kybernetische Welt wird ihre Reproduktion besorgen: Die Verlangsamung des Alterns als Produkt der radikalen Beschleunigung von Zeit. In beidem erhellt sich der "Sinn" jenes "durch Mangel definierten Wesens", das Wirklichkeit nach Maßgabe seiner Vorstellung von Zeit gesetzt hat, bis die Zeit selbst durch die derart gestaltete Wirklichkeit sukzessive vernichtet wurde. Der Philosoph Arthur Schopenhauer formulierte diesen Gedanken, der in zeitreichen Gesellschaften einfach undenkbar wäre, in bezeichnender Radikalität: "Als Zweck unseres Daseins ist in der Tat nichts anderes anzugeben als die Erkenntnis, daß wir besser nicht da wären. Dies aber ist die Wichtigste aller Wahrheiten, die daher ausgesprochen werden muss; so sehr sie auch mit der heutigen europäischen Denkweise in Kontrast steht" (Schopenhauer 1966:162). 

Der radikalen Vernichtung der Zeit durch die technoiden Selbstverewigungsprogramme des reichen Menschenfünftels auf dieser Welt sind noch genug Stolpersteine in den Weg gelegt. Dennoch zeichnet sich am Horizont eine "Entwicklung" ab, die - sofern Zeit nicht anders begriffen wird - zu einer Reproduktion des organischen, des biologischen Selektionsprozesses selbst führt. Wer setzt dann den Tod? Jene, die über die Macht verfügen Leben zu erhalten, zu verändern, zu erschaffen? Der Mensch wird dann endgültig "zum Züchter des Menschen" - eine Tatsache, der Universalethik und Humanismus in erschrockener Ohnmacht gegenüberstehen. Peter Sloterdijk, der wortgewaltige Philosoph, dessen notwendiger Aufruf zur Formulierung eines "Codex der Anthropotechniken" zu entrüsteten Diskussionen geführt hat, die gezeigt haben, wie sehr wir die Augen vor den Konsequenzen unserer eigenen "Gottähnlichkeit" verschließen, formuliert pointiert: "Es gibt ein Unbehagen in der Macht der Wahl, und es wird bald eine Option für Unschuld sein, wenn Menschen sich explizit weigern, die Selektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen haben ..." (Sloterdijk 1999:45). 
    

Zeit der Entscheidung

"Weltbilder" sind konstitutiv für die Art und Weise, in der sich Menschen – gleichwo auf der Welt – durch diese Welt bewegen. Sie sind auch konstitutiv für die Qualität von Zeit, bzw. die durch Zeit markierten Ereignisse. Mythos, Zeit und kulturelle Ordnung sind die miteinander verbundenen Konstanten, durch die der Anspruch auf Setzung von – auch sozialer – Wirklichkeit geltend gemacht wird. Insofern unterscheiden sich religiöse und wissenschaftliche Mythen nur geringfügig voneinander. Auch benötigen beide zumeist Jahrhunderte, bis sie als "selbstverständlich" dekodiert werden. Zudem zeigt sich, dass sich in den gegenwärtigen Vorstellungen von Zeit und Raum magische Bilder und Konfigurationen wiederfinden lassen, die von der zeitlich linearen, quantifizierenden und Konkurrenz freisetzenden kulturellen Globalisierung in vielen Teilen der sogenannten Dritten Welt mit Füßen getreten werden. 

Das Paradoxe freilich an der Entstehung der Weltzeit ist die schon früh erkennbare Ungleichzeitigkeit der Tempi zwischen "sozialer" Zeit und "objektiver" Zeit: Während die rechnerische Konstruktion der Weltzeit ein homogenes und sich in relativer Stabilität befindliches Zeitsystem abbildet, beschleunigt sich das Tempo der sozialen Zeit parallel zur Entstehung der mathematisch-physikalischen Zeit rapide. Erst die soziale und ökonomische Beschleunigung hat die Konstruktion der Weltzeit als verbindende Grundlage "gemeinsamen globalen Tuns" möglich gemacht. Während die objektive Zeit also scheinbar in unverrückbarer Weise gemächlich, weil immer in dem gleichen Tempo an ihren von den Menschen gesetzten Ausgangspunkt zurückkehrt, scheint der moderne Mensch in der Wahrnehmung seiner Eigenzeit von jener Dynamik erfaßt, die es ihm nicht einmal erlaubt innezuhalten, geschweige denn zu sich selbst, als Ausgangspunkt seiner selbst, zurückzukehren. Die Weltzeit - und deren rechnerische Fixierung: der Kalender - basiert auf der Wiedererkennung des Einmal-Erkannten. Die Beschleunigung der sozialen Systeme in Richtung fortwährender Veränderung verunmöglicht es dem Einzelnen, sich - sofern er an diesen Entwicklungen teilnimmt - als Einmal-Erkanntes wiederzuerkennen. Die Globalisierung der Weltzeit individualisiert den modernen Menschen in einmaliger Weise: Sie verordnet ihm im wahrsten Sinne grenzenlose Mobilität. Wenn Zeiten und Räume - auch Erfahrungsräume - grenzenlos durchschreitbar werden, dann ist Identität an kein territoriales Prinzip mehr gebunden. Das dynamische Prinzip der Weltzeit in allen Bereichen des Sozialen heißt Veränderung. 

Wir haben die Wahl, welchem Bild von Menschsein wir in dem Spiegel der Zeit hinkünftig begegnen werden. Die Entscheidung wird in jedem Moment der Gegenwart getroffen, in jeder uns als tätige Wesen verwirklichenden und Welt gestaltenden Bewegung. Menschliche, soziale und kulturelle Ordnung sind zeitlich und räumlich bedingte Konstrukte eines in sich - nur unter der Bedingung temporärer Sicherheit - beheimateten Wesens. Es liegt eine große Chance darin zu erkennen, dass der Mensch als Begründer seiner Welt für die Zukunft - deren Richtung und Bedeutung unumkehrbar ist - allein verantwortlich ist. In den Bedingungen der "modernen Zeit" und des "modernen Denkens" gibt es kein Referenzsystem mehr, aus dem heraus sich die Existenz des Menschen und seiner so vielfältigen Welten unabhängig von ihm selbst erklären lässt. 

Vernichten wir also die Zukunft in der Gegenwart oder leben wir die Gegenwart in der Zukunft? Bauen wir Raumschiffe oder verhindern wir globale Verelendung? Haben wir Zeit zu Sein, oder nur noch Zeit zu verlieren? Trachten wir danach, das Paradies immer woanders, außerhalb unserer zeitlich bedingten menschlichen Existenz, zu errichten, oder kehren wir in diese in dem Wissen zurück, begrenzt zu sein? Es liegt an uns, welchem Konzept von "Wirklichkeit" wir folgen, und es wird an uns liegen, wie lange diese Wirklichkeit uns selbst als zeitliche - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen in uns vereinigende – Lebewesen zu tragen vermag. 

    

Literatur:

Ariés, Philippe (1987): Geschichte des Todes. München: dtv-Wissenschaft

Awart, Sigrid (1997): Das Paradies ist anderswo. TV-Dokumentation (ORF, 3Sat) über den Kulturwandel aufgrund des Baus einer Goldmine auf der südpazifischen Insel Lihir (Papua Neuguinea)

Benecke, Mark (1998): Der Traum vom ewigen Leben. Die Biomedizin entschlüsselt das Geheimnis des Alterns. München: Kindler Verlag

Blumenberg, Hans (1986): Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt: Suhrkamp

Dux, Gunter (1998): Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit. Frankfurt: Suhrkamp

Eliade, Mircea (1986): Kosmos und Geschichte. Vom Mythos der ewigen Wiederkehr. Frankfurt: Suhrkamp

Elias, Norbert (1990): Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Frankfurt: Suhrkamp

Geißler, Karlheinz (1999): Vom Tempo der Welt. Vom Ende der Uhrzeit. Freiburg: Herder

Gronemeyer, Marianne (1996): Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnis und Zeitverknappung. Darmstadt: Primus Verlag

Grüsser, Otto. J. (1983): Zeit und Gehirn. Zeitliche Aspekte der Signalverarbeitung in den Sinnesorganen und im Zentralnervensystem. In: ders. (Hg): Die Zeit. München: C.H.Beck

Hall, Eduard (1959): The Silent Language. Anthropolgy of Time. New York

Hasenfratz, Hans-P. (1998): Leben mit den Toten. Eine Kultur- und Religionsgeschichte der anderen Art. Freiburg: Herder

Leisinger, Klaus M. (2000): Die sechste Milliarde. Weltbevölkerung und nachhaltige Entwicklung. München: Beck

Lévi-Strauss, Claude (1981): Das wilde Denken. Kap.: Die wiedergefundene Zeit. Frankfurt: Suhrkamp

Market Institut (1999/2000): Woran Österreich glaubt? Repräsentative Umfrage im Auftrag des Nachrichtenmagazins "Profil"

Maturana, Humberto (2000): Biologie der Realität. Frankfurt: Suhrkamp

Mbiti, Joshua E. (1967): Afrikanische Begriffe der Zeit, Geschichte und des Todes. In: Afrika heute 67/3: 40ff

Mumford, Lewis (1970): The Myth of the Machine; The Pentagon of Power II. New York

Nisbet, R. (1980): History of the Idea of Progress. New York

Nuscheler, Franz (1996): Entwicklungspolitik. Lern- und Arbeitsbuch. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz

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Obrecht, Andreas J./Awart, Sigrid (1999): Das Paradies ist anderswo, oder die "goldene Zukunft" der Bewohner von Lihir. Der durch eine Goldmine verursachte Kulturschock und Kulturwandel auf der südpazifischen Inselgruppe Lihir/Papua Neuguinea. In: Gruber, P. K./Zapotoczky, K.: Globalisierung versus Demokratie? Plädoyer für eine umwelt- und sozialverträgliche Weltordnung. Frankfurt: Brandes & Apsel. 203-229

Obrecht, Andreas J. (2000a): Das Denken über das Denken. Eine historische und wissenssoziologische Spurensuche über die Zusammenhänge von Körper, Gehirn, Bewußtsein, Erkenntnis, Denken und Maschine in 12 Stationen. In: Konrad, H./Kriesche, R. (Hg.) (2000): Kunst, Wissenschaft, Kommunikation. Band II: Leben, Sterben, Denken. Wien, New York: Springer

Obrecht, A. J. (2000b): Die zeit-räumliche Entgrenzung ethnischer Gesellschaften. Zur Trennung von Lebenszeit und Weltzeit im Zuge der Hierarchisierung und Universalisierung ehemals segmentärer Gesellschaften - am Beispiel des Hochlandes von Papua Neuguinea. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie. 3/2000: 26-50

Obrecht, Andreas J. (2000c): Die Klienten der Geistheiler. Vom anderen Umgang mit Krankheit, Krise, Schmerz und Tod. Wien, Weimar: Böhlau Verlag

Oeser, Erhard/Seitelberger, Franz (1995): Gehirn, Bewußtsein und Erkenntnis. Dimensionen der modernen Biologie II. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Otto, Ernst (1954): Altägyptische Zeitvorstellungen und Zeitbegriffe. In: Welt als Geschichte 14, Jg 54: 135-148

Rahnema, Majid (1993): Armut. In: Sachs, W. (Hg.): Wie im Westen so auf Erden. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag

Schmied, Gerhard (1985): Soziale Zeit. Umfang, "Geschwindigkeit" und Evolution. Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 11. Berlin: Duncker & Humblot

Schopenhauer, Arthur (1966): Mensch und Welt. Stuttgart: DVA – Deutsche Verlags-Anstalt

Sloterdijk, Peter (1999): Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt: Suhrkamp

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USA-Agency for International Development (2000): World Population Profile. Washington D.C.

World Watch Institute Report (2001): Zur Lage der Welt. Zehn Jahre nach Rio: Das Ende der "wilden Globalisierung"? Prognosen für das Überleben unseres Planeten. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag

   

Die Diskussion            
hat dann die Brücke geschlagen zwischen den Ausführungen des Referenten und jenem Aspekt der Zeit, der für die Parapsychologie relevant ist und gleichsam die Legitimation dafür darstellt, diesen Vortrag im Rahmen unser Gesellschaft gehalten zu haben:  es geht um das merkwürdige Phänomen der Präkognition, des Vorauswissens oder -ahnens zukünftiger Ereignisse.  So gut die Präkognition auch abgesichert ist, sei es sozialwissenschaftlich (Umfrageuntersuchungen ergeben einen hohen Anteil von Aussagen, "derartiges" ein- oder mehrmals erlebt zu haben), sei es experimentell (Laboratoriumsuntersuchungen), sie bleibt aufgrund der scheinbaren Umkehrung des Zeitpfeils bzw. der Richtung des Kausalnexus ein philosophisches Problem.

  
Link:

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